Hält nicht viel von Grundschulempfehlungen: Anne Ratzki

»Wir wurden angefeindet«

Bildungsexpertin Anne Ratzki über die Schulreform der 70er Jahre und den »Holweide-Erlass«

Auf Druck von Lehrern, Eltern, ­Politik und Schülern hat das NRW-Schul­ministerium Ende 2019 eingelenkt: Der seit 1984 geltende »Holweide-Erlass«, den die FDP-Schulministerin Yvonne Gebauer kippen wollte, bleibt bestehen.

Die Sonderregelung geht auf Anne Ratzki, Gründungsmitglied der Gesamt­schule Holweide, und das damalige Kollegium zurück und ermöglicht den Schülern an den Gesamtschulen in Holweide und Höhenhaus ein längeres gemeinsames Lernen. Die Schüler werden in Deutsch und Natur­wissen­schaften gar nicht und in Mathematik erst später als üblich in verschiedene Leistungsniveaus aufgeteilt.


Frau Ratzki, Sie haben den Holweide-Erlass durchgesetzt. Was hat es damit auf sich?

Das Konzept der Fachleistungsdifferenzierung in Grund- und Erweiterungs­kurse widerspricht der grundsätzlichen Idee der Gesamt­schule. Damit wird innerhalb der Gesamtschule das alte gegliederte Schulsystem abgebildet. Wir haben schnell bemerkt, dass in den unteren Kursen vor allem Kinder aus benachteiligten Familien waren. Damit war die soziale Trennung, die wir aufheben wollten, wieder da. Mit dem Verzicht auf die Fachleistungsdifferenzierung wollten wir ein Stück Beihilfe zur Gerechtigkeit in einem ungerechten System leisten. Es ist so wichtig für die Entwicklung des Kindes, dass es kein Etikett bekommt, auf dem steht: Du bist das Schwächere.

Ende des Monats bekommen mehr als 9000 Viertklässler in Köln ihre Grund­schul­empfehlung. Das ist auch eine Art Etikettierung. Was halten Sie davon?

Nicht viel. Zum Glück können mittlerweile die Eltern über die weiter­führende Schule entscheiden. Denn die Grundschullehrer können ja nur sagen: Jetzt, in diesem Augenblick, wäre das Kind geeignet fürs Gymnasium oder nicht. Aber sie können keine Aussage darüber machen, wohin es sich entwickelt. Ich hatte so viele Schüler, die sich über ihre Empfehlung hinaus entwickelt haben. Denen ein Haupt- oder ­Real­schul­abschluss prognostiziert wurde, und die dann doch Abitur gemacht haben. Das sind landesweit an Gesamtschulen 72 Prozent. Für diese Bildungs­karrieren brauchen wir offene Schulen. Diese Kinder wären ohne die Gesamtschule durchgerutscht!

Obwohl jährlich zwischen 700 und 1000 Kinder abgewiesen wurden, ist 28 Jahre lang nichts passiert!

Trotzdem erscheint die Gesamtschule heute noch immer als Stiefkind. Wie kommt das?

Die Bildungsreform von 1968 war nicht so stark wie die nach dem Ersten Weltkrieg. 1918/1919 hatte die SPD zusammen mit der USPD die gemeinsame Grundschule gegen die Konservativen durchgesetzt. Die Gymnasien mussten ihre eigenen privaten ­Vorschulen abschaffen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die Alliierten eine Art Gesamtschule nach Muster der amerikanischen Highschool einführen. Der Kalte Krieg war in vollem Gange, und die Amerikaner brauchten Westdeutschland als Verbündete. So schafften es die Konservativen unter Bundeskanzler Konrad Adenauer, die Amerikaner von der Highschool-Idee abzubringen. Denn die Abneigung der Konservativen gegen die Gesamtschule saß tief, das haben wir bei der Schulgründung 1975 erleben müssen. Wir wurden richtig angefeindet von der CDU: »Ihr wollt die Einheitsschule, ihr macht unsere Kinder krank.« Sie schreckten auch vor Fake-News nicht zurück. Und die SPD war nicht stark genug, ihr Bildungsideal durchzusetzen.

Die ideologischen Grabenkämpfe sind ja mehr oder weniger Vergangenheit. Wie verhalten sich Stadt und Politik heute zu den Gesamtschulen?

Das Problem ist verschlafen worden. Die ersten Gesamtschulen wurden 1975 gegründet, aber schon nach wenigen Jahren reichten die Plätze nicht mehr aus. Die zweite Phase folgte in den 80ern mit Kalk und Bocklemünd. Dann ist 28 Jahre lang nichts passiert! Obwohl jährlich zwischen 700 und 1000 Kinder abgewiesen wurden. Seit 2010 kam die Sache wieder in Schwung und es wurden neue Schulen gegründet. Interessanterweise waren es immer Elterninitiativen, die diese Gründungen angestoßen haben. Von den bis zu tausend Kindern, die jährlich an den Gesamtschulen abgelehnt werden, gehen etwa ein Drittel danach auf Gymnasien und verstopfen diese. Das heißt, wenn die Stadt Gesamtschulen baut, ­entlastet sie auch die Gymnasien. Diese Logik ist aber noch nicht angekommen.

Wenn sie ein Kind mit emotionaler Beein­trächtigung in der Klasse haben, und das dreht durch, dann brauchen sie eine Doppel­besetzung!

Was läuft denn falsch in der Kölner Schulpolitik?

Köln baut Museen, Museen, Museen. Schulen stehen leider nicht oben in der Prioritätenliste. Meine Vorstellung ist, das Gymnasium intern so zu verändern, dass es fördert statt aussiebt. Die Gymnasien sagen: Wir haben das Fördern nicht gelernt. Wir machen Fachunterricht und die Schüler müssen sehen, wie sie damit zurechtkommen. Aber auch Gymnasien können fördern! In der Aus- und Fortbildung muss das Thema Hetero­genität verankert werden. Das ist jetzt aber Schulpolitik auf Landesebene.

Die Gesamtschule Holweide unter­richtet schon seit 1986 Kinder mit unter­schied­lichstem Förder­bedarf. NRW-weit muss die Inklusion an weiter­führen­den Schulen jedoch als gescheitert angesehen werden. Was lief falsch?

Die frühere Landesregierung hatte sich vor zehn Jahren auf die Fahnen geschrieben: Wir setzen Inklusion durch, aber es gab keinerlei Steuerung von oben. Ich habe dem Ministerium immer wieder gesagt: Jede Schule braucht ein Konzept und einen Schulentwicklungsplan. Man kann nicht vier Stunden die Woche einen Sonderpädagogen abstellen und die ­Schulen ansonsten sich selbst überlassen. Wenn sie ein Kind mit emotionaler Beeinträchtigung in der Klasse haben, und das dreht durch, dann brauchen sie eine Doppelbesetzung. Die eine Lehrkraft macht dann Unterricht, die andere kümmert sich um das Kind. Die Landesregierung hat die Gymnasien Mitte 2019 von der zieldifferenten Inklusion freigestellt. Alle Schulen, auch die Gymnasien, müssen die Inklusion mittragen. Derzeit sind etwa 38 Prozent der Schüler in NRW an Gymnasien. Wenn die restlichen 62 Prozent alles stemmen müssen, ist das eine Überforderung. Das wird nicht funktionieren.

Anne Ratzki wurde 1937 in Kempten geboren, studierte in München und Berlin Germanistik, Anglistik und Theater­wissenschaften. Von 1975 bis 1995 war sie Schulleiterin der Gesamtschule Holweide, die sie auch mitgegründet hatte. Anschließend war sie Dezern­entin für Gesamtschulen bei der Bezirksregierung Köln und als Professorin an der Uni Paderborn in der Lehrerausbildung tätig.