Banlieue-Bürgermeister: Steve Tientcheu

»Die Wütenden«

Ladj Ly weiß in seinem Debüt Pulp und Küchenspülen-Realismus zu vereinen

Es ist nicht einfach vom Leben, Leiden und Aufbegehren im sozialen Abseits zu erzählen. Verpflichtet man sich einem bitteren Realismus, der sich in abendfüllender Tristesse ergeht, droht man vom Publikum — besonders jenem, von dem man erzählt — mit Missachtung gestraft zu werden. Bedient man sich andererseits eines mit Schauwert und Dramatik gewürzten Genre-Korsetts, droht der reale Hintergrund zur Elends-Kulisse für die üblichen Räuber-und-Gendarm-Spiele zu werden, die den ernsten Anlass im schlimmsten Fall denunzieren.

Ladj Ly wagt in seinem Langfilmdebüt »Die Wütenden«, Originaltitel »Les Misérables«, den Grenzgang zwischen Pulp und Küchenspülen-Realismus. Mit Erfolg: Er weiß stets, wo es zu verweilen gilt, wie viel Zeit und Raum für die Skizzierung von Milieu und Alltag zu investieren sind, und wann es nötig ist, dem Affen Zucker zu geben, um die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf Pegel zu halten. Hier hat jemand begriffen: Soziales Engagement ist gut, aber Kino ist Tempo, Gewalt und Leidenschaft.

Vom straffen Plot wird der Zuschauer in permanenter Habachtstellung gehalten. Nicht nur ein aus dem Zirkus stibitzter Löwe führt zu einem von Stress und Spannungen geprägten Tag für drei Streifenpolizisten in einer Problem-Banlieue. Belastende Drohnenaufnahmen von fatalen Grenzüberschreitungen der Staatsmacht werden zur heißen Ware, um die sich bald lokale Ganovengruppen, Polizei und salafistische Friedensrichter bekriegen.

Die Anlehnung an Victor Hugos episches Gesellschaftsporträt im Originaltitel mag zunächst vermessen wirken, doch glänzt Regisseur Ly, selber aufgewachsen in einer Problem-Gegend im Großraum Paris, mit unprätentiöser Haltung und einer klar vernehmbaren Stimme. Wo die Instanzen und Institutionen händeringend versuchen, ein desolates Gleichgewicht zu bewahren (und Pfründe auf die eigene Seite zu schaffen), nimmt Ly immer die Perspektive der Banlieue-Jugend ein, die den Zustand der Welt, wie sie ist, nicht ohne Kampf hinnehmen will. Es geht also um die Frage, ob der Status quo, für den die Erwachsenenwelt hier jedes noch so himmelschreiende Unrecht in Kauf nimmt, wirklich so erstrebenswert ist
oder eine Eskalation bestehende Systemfragen offen in die Welt schreien sollte. Im Schlussakt trumpft Ly jedenfalls mit einem Mut zur großen Geste auf, wie sie bestimmt auch Victor Hugo gutgeheißen hätte.

 

(Les Misérables) F 2019, R: Ladj Ly, D: Damien Bonnard, Alexis Manenti, Djibril Zonga, 102 Minuten.