Ein pralles Jahrzehnt 2010 - 2014

Zehn Jahre Köln, da kommt immer eine Menge zusammen, aber selten so viel wie zwischen 2010 und 2019 — manches lässt einen den Kopf schütteln, anderes schockiert bis heute. Darunter Pannen jeder Größenordnung — von falschen Wahlzetteln bis zu den großen Bauskandalen, die uns noch lange beschäftigen werden. Doch seit dem Archiv-Einsturz 2009 lassen sich die Kölnerinnen und Kölner nicht mehr alles gefallen. So besteht Hoffnung, dass wir in zehn Jahren weniger Schlimmes und auch mehr Schönes ­präsentieren können

2010

Schul-Misere

Am Ende der Dekade zeichnet sich — wie auch zu Beginn — ein trost­loses Bild der Kölner Schullandschaft. Die Stadt ist ihrem Auftrag zur kommunalen Daseinsvorsorge nur mangelhaft nachgekommen, es gibt einen immensen Sanierungsstau in nahezu allen Schulen: marode Klassenzimmer und Turnhallen, hellhörige Container als Ersatz, dreckige Schultoiletten, überfüllte Klassen. Auch beim Schulneubau fehlt jahrelang die Weitsicht. Die Stadt ist nicht in der Lage, ausreichend Schulplätze bereitzustellen, bis zu 800 Schüler werden jährlich an den Gesamtschulen abgelehnt. Bis 2040 braucht Köln laut Schuldezernat 46 neue Schulen! Die SPD fordert seit Jahren, das Thema zur Chef­sache zu machen und im Amt der Oberbürgermeisterin anzusiedeln — ­bislang vergeblich. (aa)

Bürgerbeteiligung

Als im März 2009 beim umstrittenen U-Bahn-Bau das Stadtarchiv einstürzt und zwei Menschen sterben, begehren die Kölner gegen Politik und Verwaltung auf. Als der Rat das Schauspielhaus abreißen und neubauen will, sammeln sie Unterschriften und erzwingen 2010 die Sanierung. Heute gehört Beteiligung meist zum Stan­dard. 2015 wird ein Gremium mit Bürgern gegründet, das Leitlinien festlegt. 2019 richtet die Stadt ein Büro für Öffentlichkeitsbeteiligung ein, Pilotprojekte mit neuen Beteiligungsformen starten, sie sollen ausgeweitet werden. Anderes wie das Portal »Sag’s uns« ist enttäuschend. Man kann Müll und kaputte Laternen melden, doch wenn Autos Gehwege zuparken, mailt man ins Leere. (bw)

13. April 2010

Der Stadtrat stimmt nun doch für Sanierung und Erhalt des Schauspielhauses, nachdem eine Mehrheit es Ende 2009 noch abreißen wollte; eine Initiative hat mehr als 50.000 Stimmen dagegen gesammelt.. und der Rat beschließt den Weiterbau der Archäologischen Zone am Rathausplatz — trotz fehlendem Konzept und einer Finanzierungslücke von 40 Prozent der Gesamtkosten; im Sommer 2011 beschließt der Stadtrat dann eine Erhöhung des Eigenanteils, das Projekt läuft aus dem Ruder.

 

 

  

2011

Rechtsextremismus

Das Jahrzehnt beginnt mit einem Schock. Am 4.11.2011 enttarnt sich der NSU mit einem Bekennervideo über neun Morde und zwei Bombenanschläge in Köln. Im Oktober 2014 folgt der nächste: Unter dem Slogan »Hooligans gegen Salafisten« versammeln sich 4800 Nazi-Hools am Hauptbahnhof — die größte rechtsextreme Demo in Westdeutschland seit den 90er Jahren. Ein Jahr danach der dritte Schock: Henriette Reker wird von einem rechtsextremen Attentäter mit einem Messerstich lebensgefährlich verletzt. Aber diesen drei Ereignissen stehen Erfolge im Kampf gegen Rechts gegenüber. Die rechtsextreme Wählergruppe Pro Köln löst sich 2018 auf. Der Stimmenanteil der AfD in Köln gehört zu den niedrigsten aller deutschen Großstädte. (cw)

26. März 2011

Nach der Nuklear-Katastrophe in Fukushima am 11. März wird in vielen deutschen Städten gegen Atomenergie demonstriert, in Köln kommen 50.000 Menschen an der Deutzer Werft zusammen.

10. Juli 2011

Die Einwohner­befragung zum Ausbau des Go­dorfer Hafens endet ohne brauchbares Ergebnis. Die Ausbaugegner gewinnen, verfehlen aber die Mindeststimmenzahl. Erst am 26. September 2019 überstimmt der Rat die SPD, und die Ausbaupläne sind vom Tisch.

20. Dezember 2011

Der Rat beschließt den Bau einer Rettungs­hubschrauber-Station auf dem Kalkberg, der ehemaligen Deponie der Chemi­schen Fabrik Kalk (CFK).

 

 

 

2012

25. Februar 2012

Mitarbeiter des Mineralölkonzerns Shell bemerken in der Rheinland­raffinerie in Wesseling ein Leck in der Leitung; eine Million Liter Kerosin sind in den Untergrund gesickert — und bis heute nicht voll­ständig abgepumpt.

8. Juni 2012

Einen Tag nach der letzten Aufführung beginnt die Sanierung der Oper — es ist der erste Tag des Desasters, das bis heute anhält.

 

 

2013

Nachhaltigkeit

Nach Jahren des Dornröschenschlafs werden Öko-Bewegungen massentauglich: Bei Fridays-for-Future-Demos gehen seit Sommer 2018 regelmäßig mehrere Zehntausende in Köln auf die Straße, die Fahrrad-Demo Critical Mass ist seit 2011 sehr präsent in der Stadt: Jeden letzten Freitag im Monat radeln 1000 Fahrrad-Aktivisten im Pulk durch die Stadt, um auf all die Missstände in der Verkehrspolitik aufmerksam zu machen. Und der »Tag des guten Lebens«, der mittlerweile in vielen deutschen Städten begangen wird, hat seinen Ursprung in Köln: Am 15. September 2013 organisierte der Sozialwissenschaftler Davide Brocchi mit Agora Köln zum ersten Mal den Autofreien Sonntag in Ehrenfeld, um für mehr Nachhaltigkeit und Partizipation einzutreten. Die Nachbarschafts-Party mit politischem Statement lockte prompt 100.000 Menschen an. (aa)

Kita-Misere

Die Stadt Köln trägt seit 2018 das Unicef-Siegel Kinderfreundliche Kommune, doch die Realität sieht anders aus: ständige Anhebung der Betreuungskosten, die bundesweit ohnehin zu den höchsten zählen; unzureichender Betreuungsschlüssel in den Kitas; dazu schlechtes Essen und fehlende Kita-Plätze. Trotz Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für Einjährige, der seit dem August 2013 gilt, ist Köln von der für 2020 angestrebten Versorgungsquote von 50 Prozent für Kinder unter drei Jahren weit entfernt. Bislang sind nur 42 Prozent von ihnen betreut, bei den Kindern über drei Jahren 96 Prozent. Auch die Einführung des Anmeldeverfahrens Little Bird im Sommer 2017 beseitigt weder das Behördenchaos noch beruhigt es die Eltern. Das Jugendamt versucht im November 2019 einen Vorstoß und verteilt ein Quali­tätshandbuch Kita an alle 226 städti­­schen Kitas, um eine bessere pädagogische Arbeit sicherzustellen. (aa)

15. September 2013

Der erste »Tag des guten Lebens« findet in Ehrenfeld statt. Bald darauf kopieren andere Städte das Nachhaltigkeits-Fest.

Oktober 2013

Beginn eines Bürgerbegehrens der Freien Wähler gegen ein Jüdisches Museum auf dem Rathausplatz; am 8. Mai 2014 werden die benötigten Unterschriften bei der Stadt ein­gereicht, doch das Bürgerbegehren ist verfristet, weil der Rat das ­Projekt Archäologische Zone/Jüdisches Museum bereits 2011 beschloss.

23. November 2013

Köln will als erste deutsche Großstadt »Kinderfreundliche Kommune« werden und trifft eine Vereinbarung mit Unicef und Kinderhilfswerk; das entsprechende Siegel erhält Köln bereits für Absichtserklärungen, am 11. Juli 2017 beauftragt der Rat die Stadt mit einem Aktionsplan.

 

 

2014

Drogenprobleme

Köln hat ein Problem mit harten Drogen, vor allem am Neumarkt, Friesenplatz, Wiener Platz, in Kalk und am Kölnberg. Die Stadt hinkt in der Hilfe hinterher, es gibt nur einen Drogenkonsumraum am Hauptbahnhof, wo Suchtkranke unter medizinischer Aufsicht Drogen nehmen und sich beraten lassen können. Seit 2014 gibt es laut Stadt auch am Neumarkt eine »erhöhte Beschwerdelage«, erst drei Jahre später beschließt der Rat einen Drogenkonsumraum. Nun folgt ein kölsches Lehrstück aus zu später Kommunikation mit den Anwohnern, halbherziger Immobiliensuche, Zerwürfnissen zwischen den Trägern und den Mühlen der Bürokratie. 2019 wird endlich mehr getan: zwei mobile Drogenkonsumräume eröffnen am 2. Dezember in Neumarktnähe, ab 2022 soll ein fester Raum in der Substitutionsambulanz an der Lungengasse angesiedelt werden. (aa)

Der Niedergang der SPD

Mit dem bislang letzten sozialdemokratischen Oberbürgermeister beginnt auch die Krise der einst so mächtigen Kölner SPD: Jürgen Roters war 2009, dank Unterstützung der Grünen, mit deutlicher Mehrheit zum OB gewählt worden. Aufgrund einer Wahlrechtsänderung hätte der altmodische, aber beliebte Verwaltungsfachmann sich dann bereits 2014 wiederwählen lassen können. Vieles spricht dafür, dass dann die SPD noch heute im OB-Büro das Sagen hätte. Doch Roters will lieber seine Amtszeit bis 2015 ausschöpfen — und düpiert damit Ende 2013 den Fraktionschef und Strategen Martin Börschel sowie dessen volksnahen Kompagnon und SPD-Parteichef Jochen Ott. Doch »Ottschel«, einst Erneuerer der Partei und sozialdemokratisches Traum-Duo, hat derweil schon den grünen Bündnispartner im Rat vergrätzt — unter Roters und mit den beiden sei kaum grüne Politik möglich, hört man dort. Nur pflichtschuldig führen die Grünen die Koalition bis zum Ende der Legislatur. Dann überreden deren Spitzen die parteilose Umwelt- und Sozialdezernentin Henriette Reker und finden für sie breite Unterstützung bei CDU, FDP, Deine Freunde und Freien Wählern. Die Zeichen stehen auf Schwarz-Grün, und SPD-Kandidat Jochen Ott hat nie eine Chance. Die SPD hat diese Niederlage bis heute nicht verwunden. Börschel strauchelt dann über einen Deal bei den Stadtwerken, und Ott hat es im Januar 2019 auch satt. Die neue Spitze — Christian Joisten in der Fraktion, Christiane Jäger in der Partei — kann keine Aufbruchstimmung erzeugen. Einen SPD-Kandidaten für die OB-Wahl 2020 hat die Partei bislang nicht gefunden. (bw)

Wohnungsnot

In Köln gibt es zu wenig bezahlbare Wohnungen. Dennoch ziehen immer mehr Menschen nach Köln. Laut der neuesten Prognose werden bis zum Jahr 2040 rund 1,2 ­Millionen Menschen in Köln leben. 6000 Wohnungen sollen jährlich entstehen, doch Köln schafft bloß gut ein Drittel davon — und davon sind viele zu teuer. Der städtischen Wohnungsbaugesellschaft GAG gelingt es nicht, genug bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Weil es für große Investoren lukrativer ist, Luxuswohnungen zu bauen, hat die Stadt 2014 das Kooperative Baulandmodell eingeführt: Wer in Köln baut, muss mindestens 30 Prozent Sozialwohnungen errichten. Doch es gibt viele Schlupflöcher, und eine Linderung der Wohnungsnot ist nicht eingetreten. Die Stadtteile spalten sich immer mehr in reiche und arme auf. Ein Pro­blem ist auch, dass Köln zu wenig Zugriff auf möglichen Baugrund hat. Mitte 2016 legt die Stadtverwaltung sogenannte Flächenpässe vor, darin wurden Grundstücke aufgelistet, auf denen gebaut werden könnte. Allerdings waren die meisten gar nicht im Besitz der Stadt, und selbst wenn alle Areale bebaut würden, ergäbe das nur die Hälfte der benötigten Wohnungen. Viele Bürger protestierten zudem, weil auch Grünflächen und Schrebergärten als mögliche Grundstücke für den Wohnungsbau aufgelistet waren. Auf den Klimawandel und zugleich auf die Wohnungsnot zu reagieren, scheint oft im Widerstreit zu stehen. Die Einwohnerzahl steigt derweil weiter. (bw)

Ge­bäude 9 in Gefahr

In den 10er Jahren ist die Kölner Clubszene so vielfältg wie nie zuvor. Egal, ob Afroswing oder Backpacker-HipHop, für fast jedes Genre gibt es eine Clubnacht. Aber zugleich ist sie ständig bedroht — durch den Immobilienmarkt. In Ehrenfeld muss das Underground 2017 nach fast 30 Jahren schließen, das Heinz Gaul folgt bald. Beinahe hätte es 2014 auch das Gebäude 9 erwischt: Direkt nebenan entsteht ein Wohngebiet, Lärmbeschwerden sind programmiert. Aber die Parteien entdecken die Clubrettung als Wahlkampfthema — eine Schließung wird verhindert, das Gebäude 9 renoviert. Mittlerweile rühmt sich die Politik mit der Kölner Clubszene. Schwarz-Grün hat einen Lärmschutzfonds aufgelegt und am 31. Oktober 2019 hat OB Reker persönlich das Gebäude 9 eröffnet. (cw)

11. Februar 2014

Der Rat beschließt das Stadtentwicklungskonzept Wohnen, darin enthalten ist das »kooperative Baulandmodell«: Wer baut, muss 30 Prozent öffentlich geförderte Wohnungen errichten, doch es gibt Schlupflöcher, und die Wohnungsnot bleibt.

25. Mai 2014

Bei der Kommunalwahl wird die SPD mit 29,4 Prozent stärkste Fraktion, und die Grünen, ihr bisheriger Bündnispartner, erlangen mit 19,2 Prozent ihr bis dahin bestes Ergebnis — am Ende aber gibt es ein schwarz-grünes Minderheitenbündnis.