Authentizität macht man am besten selbst: Mélanie Froehly und Ira Givol

Rhetorik und Phantasie

Das Kölner Fest für Alte Musik verspricht nichts weniger als eine Neudefinition von Alter Musik

Köln ist ein Hotspot der Alten Musik, nicht erst seit gestern. Ob Musikwissenschaftler, Musikerin oder interessierte Hörer: Wer sich mit Alter Musik auseinandersetzt, landet über kurz oder lang in Köln. Verlässt man diesen Gemeinplatz und schaut genauer hin, beginnt die Verwirrung. Was genau ist eigentlich Alte Musik? Die zeitliche Eingrenzung (eher eine Entgrenzung…) ist noch die leichteste Übung: Es ist die Musik, die vor 1750 gespielt wurde, vor dem bürgerlichen Zeitalter mit seinen Konventionen und seinem linearen Geschichtsverständnis. Alte Musik ist Barockmusik und die Musik der Renaissance, man kann den Begriff noch weiter hinein ins Mittelalter dehnen. Das Verwirrende oder vielmehr das Kontroverse, das sich im Begriff der Alten Musik verdichtet, ist auf die verschiedenen Haltungen, wie mit ihr umzugehen ist, zurückzuführen: Ist Alte Musik nur dann authentisch aufegführt, wenn sie möglichst viele Details der zeitgenössischen Interpretation, Spielweisen oder des Instrumentenbaus rekonstruiert? Das nennt sich »historisch informierte Aufführungspraxis«. Oder gilt das Gegenteil — ist Alte Musik nicht vielmehr radikal »unauthentisch«, gerade weil ihr der fixe Kanon und das standardisierte Repertoire von Klassik und Romantik abgehen? Beide Haltungen sind legitim, beide sind akzeptiert, werden aber bis heute in der Szene heftig diskutiert.

Ira Givol, Cellist aus Tel Aviv und künstlerischer Leiter des zehnten »Kölner Fest für Alte Musik« (21–29.3.), sieht es lakonisch: »Heute ist die Alte Musik etabliert. Ein guter Zeitpunkt, um wieder radikaler zu sein.« Die »historisch informierte Aufführungspraxis«, sich empathisch gegenüber musikalischem Denken und Spielhaltungen aus vergangenen Jahrhunderten zu zeigen, sei längst akzeptiert (und wird heutzutage selbst für die Musik des frühen 20. Jahrhunderts probiert): »Das ist das Schicksal aller Revolutionen.« Aber wo macht man den Schnitt? Renaissancemusik spielt man auf Instrumenten dieser Zeit, d’accord, aber müssten sie nicht strenggenommen mit historischen Werkzeugen hergestellt worden sein? »Man kann den Begriff der Authentizität immer weiter fassen, ihn immer genauer nehmen, aber man findet trotzdem kein Ende«, meint Givol. »Die Entscheidung, was authentisch ist oder nicht, wie weit man geht mit der historischen Rekonstruktion, liegt letztlich bei den Musikern.« Das impliziert eine ungeheure Freiheit: Alte Musik ist geradezu regelvernarrt und streng strukturell (ja, natürlich, es fällt einem sofort Bach ein!), aber die Freiheit, sich diesem Material unbefangen zu nähern, es neu zu interpretieren, bestimmte Strukturelemente zu betonen, andere zu vernachlässigen: Diese Freiheit ist radikal. Sie steht bei dem von Givol kuratierten Festival im Mittelpunkt.

»In Köln gab es nach 1945 zwei Alternativbewegungen in der Musik. Die eine ist Neue Musik, die andere vielleicht nicht so bekannte ist Alte Musik. Sie ist aber genauso unkonventionell und voller Aufbruchsstimmung«, meint Mélanie Froehly, seit 2018 Geschäftsführerin des Zamus — »Zentrum für Alte Musik«, mit 150 Mitgliedern der Nukleus der Szene und Ausrichter des Festivals. Die Analogie zu den Neutönern wählt sie bewusst: Denn im Mittelpunkt des Festivals stehen zahlreiche Konzertformate und auch Diskussionsrunden, die den Status einer bisweilen museal erstarrten Aufführungspraxis hinterfragen. »Es soll sehr viel mit unserer Hörerfahrung gespielt werden, es kann passieren, dass man nicht weiß, ob man jetzt Alte oder Neue Musik hört«, fasst Givol den Sinn des Programms zusammen. Das verdichtet sich zum Musik-Marathon am Eröffnungssamstag (21.3.), wo man zwischen 13 und 21 Uhr an fünf Orten 13 Konzerte besuchen kann. An das Festival anknüpfen wird dann im Frühjahr die Konzertreihe »Zamus Unlimited«, die den Gedanken — und die Praxis — der Engrenzung noch weiter treiben möchte.

Im Mittelpunkt steht aber auch ein Buch: »The End of Early Music« von Bruce Haynes (2007 erschienen). »Man kann fast sagen, das Festival basiert auf diesem Buch«, meint Froehly, das sei ungewöhnlich, aber auch konsequent. Denn Haynes bricht hier mit dem immer noch vorherrschenden evolutionären Musikverständnis: »Völlig verfehlt wäre es, die jeweils zeitgenössische Musik als Gipfel einer Entwicklung zu verstehen«, fasst Egbert Hiller es in einem Essay für das Programmheft zum Festival zusammen. Alte Musik ermöglicht uns ein anderes Hören, das nicht zielgerichtet ist, sondern die Aufmerksamkeit auf verblüffende Zusammenhänge, auf Klang-Verhältnisse richtet, etwa das von göttlicher Ordnung, die die Musik einst widerspiegeln sollte, und der individuellen, subjektiv-künstlerischen Explizierung dieser Ordnung. Haynes spricht deshalb statt von Alter Musik lieber von »rhetorischer Musik«, von einer Musik der Gesten und Formeln, also Rhetorik, die sich in der Anwendung aber höchst beweglich zeigen. Damit war es später vorbei: »Im 19. Jahrhundert ist die Musik selbst zur Religion geworden«, meint Givol. So (staats-)gläubig waren die früheren Komponisten nicht.

Natürlich bereichert das unseren Blick auf die Gegenwart. Wenn man Froehly und Givol im Ehrenfelder Zamus-Hauptquartier besucht, sitzt man in einem Trakt der alten Helios-Werke, über einem der Leuchtturm: Das Zamus residiert auf der Ehrenfelder Partymeile genau zwischen der Live Music Hall und dem Club Bahnhof Ehrenfeld. Nicht der schlechteste Ort.

zamus.de

In unserer März-Ausgabe bringen wir ein ausführliches Interview mit Ira Givol und stellen die Highlights des Festivals vor.