Melancholische Selbstberauschung: »Fusseln« im Theater der Keller

Die unerträgliche Flüchtigkeit des Seins

Charlotte Sprenger inszeniert »Fusseln« im Theater der Keller

Fusseln, das sind kleine Wollfasern, die sich von Textilien lösen. Man findet sie in der Jackentasche, auf dem Schal und gerne auch im Bauchnabel. Es sind Abfälle — achtlos entsorgt und schon wieder vergessen. Nicht der Rede wert, möchte man meinen. Wolfram Lotz sieht das anders. 2011, also noch bevor er für Stücke wie »Die lächerliche Finsternis« mit Preisen überhäuft wurde, veröffentlichte er im Kölner Kleinverlag Parasitenpresse eine Liste von Fusseln in der Welt, also Dinge und Empfindungen, die scheinbar nutzlos am Rockzipfel des Lebens hängen: »Laub auf dem Boden des blauen Schwimmbeckens«, »Nicht mehr benutzte Ameisenstraßen« oder »Leere Wäscheleinen« etwa. Irgendwo zwischen Lyrik und Prosa angesiedelt, präsentiert der Text in assoziativer Reihung ein Panorama des Vergessenen und Vergehenden.

Ist so ein Text, der sich konsequent dem Erzählen verweigert, überhaupt sinnvoll auf die Bühne zu bringen? Regisseurin Charlotte Sprenger hat es versucht. In der Interimsspielstätte des Theater der Keller inszeniert sie die »Fusseln« mit 13 Nachwuchsschauspielern aus der hauseigenen Akademie. Um es vorweg zu nehmen: Der Versuch gelingt bravourös.

Springer schickt ihr Ensemble, in glitzernd-grünen und weißen Kleidchen gehüllt, als Christbaumkugel-Chor auf die Bühne. Dort wirbelt das junge Ensemble über die kahle Szenerie. Zusammen ­tragen sie die Skizzen aus den ­»Fusseln« vor: Von melancholischen Erkenntnissen über Sterblichkeit und dem Verrinnen der Zeit (»Tage mit Weltschmerz und Schnupfen«, »Auf den Denkmälern die Taubenscheiße«) über Faszination für Kleinstphänomene weltlichen Treibens (»Güterzüge am Horizont«, »Im Gras vergessene Falläpfel«) bis hin zu »Glück, ja, das auch«. Der Chor berauscht sich an immer intensiverer Selbst- und Weltwahrnehmung. Permanent stoßen die Schauspieler*innen aneinander, verhaken sich zur organischen Masse, nur um sich kurz darauf in ihre Einzelteile aufzulösen. Lotz‘ Text gewinnt an Körperlichkeit und emotionaler Tiefe. Das sorgt für eine intime Atmosphäre, die sich zum Ende hin verstärkt, wenn der Chor durch die Zuschauerreihen schleicht, um dem Publikum weitere Weisheiten ins Ohr zu flüstern.

Dass sich dieses Verfahren nicht abnutzt, hat mit Sprengers Gespür zu tun, auch den absurden und komischen Sequenzen des ­Textes Raum zu geben und für ­Auflockerung zu sorgen. So vergehen achtzig Minuten in Windes­eile. Als Zuschauer geht man mit geschärften Sinnen nach Hause. Ein großes ­Plädoyer für das ­vermeintlich Kleine.