Übelst angebaggert

Die meisten Häuser stehen leer in Morschenich. Das Dorf am Rand des Hambacher Forsts sollte dem Braunkohle-Tagebau ­weichen. Doch das Gesetz zum Kohleausstieg zwingt RWE, den Tagebau zu verkleinern. Wald und Dorf werden doch nicht weggebaggert. Was soll aus diesem Ort nun werden? Die Bundes­regierung verspricht Fördergelder in Milliardenhöhe. Doch die Diskussion darüber, wie das Rheinische Revier nach der Kohle aussehen soll, hat gerade erst begonnen

Georg Gelhausen stellt einen Karton mit Desinfektionsmitteln auf der Kirchenbank ab und sieht sich um. »Ist doch alles noch gut in Schuss«, sagt Gelhausen. Dann überlegt er, wo er die Schlüssel für die Dixie-Klos deponieren soll, die draußen vor der Kirche St. Lambertus stehen, und nimmt den »Herrn von der Technik« in Empfang. Alles soll gut vorbereitet sein für das Konzert, das heute Abend in der Kirche von Morschenich stattfindet, einem kleinen Dorf am Rande des Hambacher Forsts. Gelhausen ist nicht etwa der Kantor oder Küster der Dorf­kirche, sondern Bürgermeister von Merzenich, einer Gemeinde im Kreis Düren, zu der Morschenich gehört. Heute kümmert er sich auch um Technik, Toiletten und Corona-Prävention. Überhaupt macht er vieles, was andere Bürgermeister in der Region lange nicht als ihre Aufgabe verstanden haben. Zum Beispiel: eine Zukunft ohne Braunkohle planen.

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Eigentlich war nicht vorgesehen, dass in St. Lambertus noch Menschen herumlaufen oder gar Musiker auftreten. Wäre es allein nach den Plänen des Energiekonzerns RWE gegangen, dem die Kirche gehört, wäre sie wohl längst verbrettert und vernagelt, wie so viele andere Gebäude im Ort. Seit 1973 wussten die Morschenicher, dass ihr Dorf dem größten Braunkohletagebau Europas weichen soll. Vor fünf Jahren zogen die ersten aus, viele bauten in »Morschenich-Neu« am Ortsrand von Merzenich. Im Oktober 2019 lebten noch 206 Menschen im alten Dorf, inzwischen dürften es noch weniger sein.

Doch unterdessen wuchs der Widerstand rund um den Hambacher Forst, Zehntausende demonstrierten für einen schnelleren Kohleausstieg. Die »Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung« einigte sich auf den Kohlekompromiss — und äußerte den Wunsch, dass der Hambacher Forst stehen bleibt. Ende Januar — wenige Tage, bevor das Bundeskabinett das Gesetz zum Kohleausstieg beschloss — verkündete RWE, was viele seit mehr als einem Jahr vermuteten: Morschenich wird »bergbaulich nicht mehr in Anspruch genommen«. Die Umsiedlung ist beinahe abgeschlossen, doch das Dorf bleibt stehen. »Das hat es in Deutschland so noch nie gegeben«, sagt Bürgermeister Gelhausen. Er wittert die große Chance: Ein neues, nachhaltiges Revier soll in der Region entstehen — und Morschenich sein innovatives Zentrum werden.

Gelhausens Pläne umfassen alles, was als zeitgemäß und nachhaltig gilt: Er will neue Wohnformen ausprobieren, Bienen retten, Start-ups ansiedeln und »Mobilität neu denken«. Es soll einen Architektenwettbewerb geben, im Bereich Bioökonomie geforscht werden, und die von der Kohlekommission gewünschte Internationale Bau- und Technologieausstellung soll in Morschenich ihr Zentrum haben. Heute, mit dem A-capella-Konzert in der Dorfkirche, soll gewissermaßen der Startschuss fallen für die glorreiche Zukunft. Gelhausen will damit Spenden sammeln, um die Kirche auch künftig für kulturelle Veranstaltungen nutzen zu können — und später vielleicht auch als Versammlungsraum an seinem »Ort der Zukunft«.

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Mehr als 50 Dörfer und Siedlungen sind in den Braunkohle-Tagebauen des Rheinischen Reviers verschwunden, die ersten in den 50er Jahren. Um an die Kohle zu gelangen, pumpte Rheinbraun, später RWE, das Grundwasser bis auf 600 Meter Tiefe ab. Brunnen fielen trocken, ganze Landstriche sackten um mehrere Meter ab. Auch in Merzenich, dem Sitz von Bürgermeister Gelhausen, klaffen Dutzende Lücken im Straßenbild. Vierkanthöfe und Fachwerkhäuser mussten wegen der Bergschäden abgerissen werden. Die Kohle gibt den Takt vor — das kennt man hier nicht anders. Im Rheinischen Revier gibt es kaum einen Verein, der nicht mit Spenden von RWE bedacht wird, kaum ein Schulfest, das ohne großzügiges Sponsoring des Stromkonzerns auskommt. Die gewaltige Landschaftszerstörung und den Heimatverlust so vieler Menschen nahm man lange hin. Doch jetzt steht das Braunkohle-Land im Fokus, der Wind hat sich gedreht. Schaffen es die Dörfer, schaffen Kerpen, Düren und all die anderen Kommunen es, sich eine Zukunft ohne Kohle aufzubauen?

Wenn RWE die Bürgermeister im Revier fragt, ob sie auf ihrem Boden Häuser abreißen oder noch ein bisschen mehr Grundwasser abpumpen dürfen, ist das vor allem ein Akt der Höflichkeit. Dem Energiekonzern wird selten etwas abgeschlagen — und die Erlaubnis erteilen ohnehin die Landkreise. Gelhausen aber stimmte in den vergangenen Jahren nicht mehr zu. Laut dem jetzt noch gültigen Braunkohleplan hätte er ein Drittel seines Gemeindegebiets an den Tagebau Hambach verloren. Als die Kohlekommission dann empfahl, den Hambacher Forst stehen zu lassen, war es, als habe sie bei Gelhausen einen unsichtbaren Knopf gedrückt. »Das wiedergewonne Land ist eine Chance, die wir nutzen müssen«, sagt Gelhausen, der Mitglied der CDU ist. Bereits im März 2019 präsentierte er dem Land und der Zukunftsagentur Rheinisches Revier, die den Strukturwandel organisieren soll, seine Projektmappe für die Gemeinde. »Hier wurde der Grundstein für den Kohleausstieg gelegt, hier wurde Geschichte geschrieben. Deshalb muss hier ein Ort der Zukunft entstehen.«

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Bereits beschlossen ist das Bioökonomie-Projekt mit dem Forschungszentrum Jülich. Ulrich Schurr, Leiter des dortigen Instituts für Pflanzenwissenschaften, koordiniert das Projekt »Bioökonomie-Revier«, er will aus dem Rheinischen Revier eine Modellregion für biobasierte Wertschöpfung machen. »Wir müssen die Umstellung schaffen von einer Region, die von fossilen Brennstoffen wie Braunkohle geprägt war, hin zu einer Region, die nachhaltig wirtschaftet.« Statt Kohle sollen in Zukunft Pflanzen, Tiere oder Bakterien als Rohstoffgrundlage dienen. Es gehe darum, Kreisläufe zu schließen: So könnten etwa aus Pflanzenreststoffen, die bei der Nahrungsmittelgewinnung anfallen, neue Produkte oder Treibstoffe gemacht werden. Der Abfall wird zum neuen Ausgangsmaterial.

Insgesamt sollen 15 solcher Bioökonomie-Projekte die Grundlage für den Wirtschafts- und Energiewandel bilden, neben dem Forschungszentrum Jülich sind die Fraunhofer-Gesellschaft, die Aachener Hochschulen sowie Unternehmen aus der Region beteiligt. Am Tagebau Hambach ist ein Testlabor für schlechte Böden namens Marginal Field Lab angesiedelt, das Institut für Pflanzenwissenschaften will die Tagebaufelder als Feldlabore nutzen. Dort wollen die Wissenschaftler testen, welche Pflanzen auch mit schlechten Böden zurechtkommen. »Wir züchten Pflanzen, die wenige Nährstoffe und Wasser brauchen. Das ist in Zeiten des Klimawandels unabdingbar«, so Schurr. Der Bund fördert das Bioökonomie-Revier mit rund 25 Millionen Euro. Erste Bodenproben sind genommen, mittelfristig könnte das Projekt in Morschenich angesiedelt werden.

Schurr sieht in den Bioökonomie-Projekten auch eine Chance für eine neue regionale Identität. »Nachhaltigkeit und Klimaschutz bewegen die Gesellschaft sehr.« Mit seinem Team will der Wissenschaftler eine Reihe partizipativer Projekte ins Rollen bringen. Tiny Houses auf Rädern, die gerade gebaut werden, sollen den Umbau des Reviers mit Ausstellungen begleiten und als Versammlungsorte dienen, die Projekte an Schulen und Altenheimen vorgestellt werden.

Die »Innovationslabore«, wie Schurr die Projekte nennt, sollen auch neue Arbeitsplätze und Anreize für Unternehmensansiedlungen schaffen. »Es geht nicht darum, dass sich die Wissenschaft hier toll vergnügt, sondern dass Arbeitsplätze entstehen.« Mittel- bis langfristig sollen nach den Wünschen des Wirtschaftsministeriums etwa tausend Arbeitsplätze in der Region pro Jahr entstehen. »Wir brauchen einfach qualifizierte Arbeitskräfte, ebenso wie High-Tech-Spezialisten aus dem Bereich Künstliche Intelligenz«, so Schurr.

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In Morschenich stehen zwar viele Häuser leer, aber ein Geisterdorf ist es nicht. Geflüchtete Familien sind hier untergebracht, Kinder spielen in den Straßen. Aktivisten aus dem Hambacher Forst laufen vom Dorfcamp Richtung Wald und zurück, beobachtet vom RWE-Werkschutz, dessen Mitarbeiter in großen Pick-Ups durchs Dorf fahren. Unablässig brettern LKW durch die Straßen, um Material zum Tagebau zu liefern oder Bauschutt aus dem nahen Dorf Manheim wegzubringen, das gerade abgerissen wird.

Gelhausen läuft zum Kindergarten am Ortseingang von Morschenich, einem einfachen Bungalow aus den 60er Jahren. Dahinter liegen zwei Spielplätze, Wiesen, dann das Tagebauloch. Wenn nach den Sommerferien der Kindergarten nach Morschenich-Neu umzieht, möchte Gelhausen im alten Haus eine »Lernwerkstatt« unterbringen. »Hier war immer ein Ort der Bildung, deshalb bietet sich das doch an«, findet er. Mit der Katholischen Fachhochschule Aachen hat Gelhausen bereits eine Kooperation vereinbart; denkbar sei etwa, dass Bürger sich hier über den Strukturwandel austauschen, oder man etwas über die Bioökonomieprojekte erfährt.

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Aber nicht nur der Bürgermeister hat so seine Pläne für Morschenich, das gerettete Dorf. Immerhin gibt es noch einige Menschen, die hier wohnen — oder die gerne in ihr altes Haus zurückkehren würden. Franz-Josef Bolz zum Beispiel. Vor zwei Wochen sind er und seine Frau ausgezogen, das Haus ist leergeräumt, nur ein Ecksofa aus braunem Leder steht noch im Wohnzimmer vor der großen Fensterscheibe. Über eine Internet-Annonce wollen sie es verschenken. Bolz nimmt ein letztes Mal darauf Platz und guckt aus dem Fenster auf den Garten, die Felder dahinter, den Hambacher Wald. »Diesen Ausblick werde ich am meisten vermissen«, sagt er.

Er wohnt jetzt mit seiner Frau in einem Niedrig­energie­haus in Nörvenich. Ökologisch nachhaltig wohnen, das war ihnen wichtig. »Wir wären auch gerne mit der Dorfgemeinschaft nach Morschenich-Neu gezogen«, so Bolz, der als OP-Manager in einem Kölner Krankenhaus arbeitet. Das Ehepaar hatte bereits ein Grundstück reserviert. Doch dort hätten sie einen Anschluss an ein zentrales Heizkraftwerk bauen müssen, so wie alle Neubauten im Ort. Ein Passivhaus, oder Solarthermie auf dem Dach, — das ist in Morschenich-Neu nicht erlaubt. Es kam zum Streit zwischen den Dorfbewohnern, noch Jahre danach wühlt Bolz die Geschichte auf. »Wenn man schon die Chance hat, neu zu bauen, dann muss das doch ökologisch sinnvoll sein!«, findet er. Seine Schwiegermutter sei dennoch ins neue Dorf gezogen, sie habe jetzt ein großes, altengerechtes Haus. Doch völlig zufrieden sei sie auch nicht: »Das Haus ist barrierefrei, aber der Ort nicht«, sagt Bolz. »Es gibt keine Geschäfte, und Busse fahren nur nach telefonischer Anmeldung. Jetzt kann sie nicht mal mehr problemlos selbstständig einkaufen gehen.«

Hätten sie früher gewusst, dass Morschenich stehen bleibt — sie hätten nicht an RWE verkauft, sagt Bolz. Jetzt möchten sie ihr Haus von RWE zurückkaufen. Das sei aber nicht möglich, teilte das Unternehmen mit.

Die gleiche Antwort erhielten auch Dagmar und Jürgen Gerden, die vor zwei Jahren an den Rand von Düren gezogen sind. Dort haben sie einen Bio-Bauernhof, insofern war der Umzug auch praktisch. Aber ihr altes Haus lässt sie nicht los, noch immer kommen sie oft hierher, gehen spazieren und beobachten, wie der Garten langsam verwildert. »Das ist mein Elternhaus, mein Vater hat es 1969 gebaut«, sagt Dagmar Gerden. Lange guckten sie von ihrem Haus auf den Ham­bacher Forst, der mal der größte Wald im Rheinland war. Früher konnten sie stundenlang mit dem Rad durch den Wald fahren, dann sahen sie zu, wie der Wald immer weiter schrumpfte, und das »Loch« immer näher kam. Zum Schluss waren die Bagger nur wenige hundert Meter entfernt, Tag und Nacht war es laut und hell vor ihrem Fenster. »Der Tagebau wurde ausgeleuchtet wie ein Fußballplatz bei Flutlicht«, so Jürgen Gerden.

Wenn Dagmar Gerden über die Umsiedlung spricht, kommen ihr heute noch die Tränen. In den Verhandlungen fragten Vertreter von RWE sie zunächst nach der offiziellen Baugenehmigung, schließlich liege das Haus im Außenbereich, dort habe es öfter Schwarzbauten gegeben. „Dann hieß es, wir seien eigentlich gezwungen, nach Morschenich-neu zu ziehen, da wir weniger Entschädigung bekämen, wenn wir das nicht täten.« Bei Problemen sollten sie sich an die Bezirksregierung wenden, so RWE. Doch dort habe ihnen auch niemand geholfen. »Man ist damit alleine«, sagt Dagmar Gerden. Auf der Rückfahrt vom Termin bei der Kölner Bezirksregierung beschlossen sie, aufzuhören. »Ich habe gesagt, wir gehen jetzt, sonst werden wir auch noch krank.«

Dreimal haben die Gerdens bei RWE schon angefragt, ob sie ihr altes Haus zurückkaufen dürfen, nun, da Morschenich stehenbleibt. Dreimal bekamen sie eine Absage. Im letzten Schreiben lautete die Begründung des Unternehmens, dass man »einen Abbruch oder eine Rück­abwicklung der Umsiedlung« aus »Sicht der Sozial­verträglichkeit« für nicht sinnvoll halte. Über die Zukunft des alten Ortes werde mit der Gemeinde Merzenich, dem von den Umsiedlern gewählten Bürgerbeirat und den für die Landesplanung und die regionale Zukunftsent­wicklung zuständigen Stellen entschieden. Am Schluss folgt noch der Hinweis, in »absehbarer Zeit« könnten bereits »erste Maßnahmen aus Gründen der Verkehrs­sicherheit erforderlich werden«. Jürgen Gerden inter­pretiert dies so: »RWE lässt durchscheinen, dass sie Häuser abbrechen werden.«

Tatsächlich gibt es viele im neuen Dorf, die ihre alten Häuser lieber heute als morgen abgerissen sähen. »Es darf keine zwei Morschenichs geben« — mit diesem Satz ließ sich auch der Ortsvorsteher von Morschenich mehrfach in der Lokalpresse zitieren. Meint er damit auch: Die Umsiedlung darf nicht umsonst gewesen sein? Eine Anfrage der Stadtrevue ließ er unbeantwortet.

Die Gerdens wiederum haben genau registriert, wie sich die Stimmung zu ihren Gunsten gedreht hat. Mit Genugtuung sehen sie, wie sich die Bagger von ihrem alten Haus wieder ein Stück entfernt haben. Und nun soll hier, in der entwidmeten und zugesperrten Dorfkirche, auch noch ein Konzert stattfinden! Dagmar Gerden kann es erst nicht glauben. »Kommt jetzt wieder Leben in das Dorf?« Ihr Mann lacht. »Gleich kommt der Weihnachtsmann vorbei«, sagt er. Immer wieder fragt Dagmar Gerden fast flehentlich: »Was glauben Sie, bekommen wir unser Haus vielleicht doch zurück?«

Es sei »klar, dass der alte Ort nicht mehr der frühere Ort der Gemeinschaft werden kann«, sagt RWE-Sprecher Guido Steffen. Es sei sinnvoll, erst einmal »ganzheitlich zu klären, wie es mit der Gemarkung Morschenich weitergeht«. Als »gute Nachbarn« werde man die Gemeinde Merzenich selbstverständlich dabei unterstützen, Morschenich »nachhaltig zu entwickeln«. Auch Bürgermeister Gelhausen will den Gerdens nicht zu viel Hoffnung machen. Er ist RWE schon einmal auf die Füße getreten, als er mit seinen Vorhaben zu einem Zeitpunkt nach vorne preschte, als der Konzern sich zu seinen Plänen für den Tagebau Hambach noch gar nicht öffentlich geäußert hatte. Gelhausen braucht aber RWE, um seine Pläne umzusetzen. Dem Konzern gehören die Flächen und der Großteil der Häuser. »Aber bei uns liegt die Planungshoheit«, so Gelhausen. Juristisch werde es kaum möglich sein, jetzt noch Hauseigentümer in Morschenich zu enteignen. »Aber klar ist auch: Wir setzen die leerstehenden Häuser jetzt nicht einfach bei Immobilienscout rein. Das hat der Ort nicht verdient.« Jetzt komme es darauf an, gemeinsam ein Konzept vom »Ort der Zukunft« erarbeiten. Die Frage ist nur: Passen die alten Morschenicher da noch hinein? Und wie viel wird von Morschenich tatsächlich stehenbleiben?

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Für den Kohleausstieg gibt die Bundesregierung den Kohle­ländern insgesamt 40 Milliarden Euro. In NRW hat die Landesregierung die »Zukunftsagentur Rheinisches Revier« damit beauftragt, den Geldsegen gemäß dem sogenannten Strukturstärkungsgesetz zu verteilen. Gesellschafter der Agentur sind die von der Braunkohlewirtschaft betroffenen Städte und Landkreise, die Handwerkskammern, Industrie- und Handelskammern sowie die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), im Aufsichtsrat sitzt zudem RWE. Geschäftsführer der Zukunftsagentur ist Ralph Sterck, den man in Köln vor allem als Chef der FDP-Ratsfraktion kennt.

Anfang März sitzt Sterck in einem Raum der Evangelischen Gemeinde in Düren auf dem Podium, um zu erklären, wie seine Agentur den Strukturwandel bewerkstelligen will. »Von der Braunkohle zum Silicon Valley Deutschlands?« heißt die Veranstaltung. Die Kräfteverhältnisse auf dem Podium sind schnell klar: Antje Grothus ist da, Mitgründerin der Initiative Buirer für Buir und Mitglied der Kohlekommission, dazu David Dresen von »Alle Dörfer bleiben«, der für den Erhalt der bedrohten Dörfer bei Garzweiler kämpft, außerdem Andreas Büttgen, auch er ein »Buirer für Buir« und Anti-Kohle-Aktivist. Sterck, der im Kölner Rat sonst gern mit flotten Sprüchen auftritt, kann heute Abend beim Publikum kaum punkten.

»Wir stehen vor einer großen Transformation«, sagt Jens Sannig, Superintendent des Kirchenkreises Jülich. Es gebe aber noch nicht einmal einen Konsens, die Dörfer und den Wald zu erhalten. So könne der Einstieg in den Strukturwandel nicht gelingen. Er sehe die Gefahr, »dass wir wieder etwas bekommen, was wir in der Region nicht wollen und nicht brauchen.« Dann sagt Sannig zu Sterck: »Wenn Sie unsere Interessen vertreten wollen, müssen Sie abbilden, was die Region will, und die Menschen fragen.«

Auch Antje Grothus sagt immer wieder, man brauche mehr Teilhabe und Mitbestimmung. »Der Strukturwandel wurde noch nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe definiert. So kann das nicht gelingen.« RWE übe in der Zukunftsagentur über den Aufsichtsrat massiv Druck aus, wo denn da etwa junge Leute aus der Region oder Kirchen blieben? »Sie rennen bei mir offene Scheunentore ein«, beteuert Sterck. Immer wieder verweist er auf die Bürgerbeteiligung, die doch gerade angelaufen sei. Im »Projektspeicher« der Zukunftsagentur habe man schon 500 Ideen aufgenommen, ein Bürgerfonds sei vorgesehen.

Wenn er etwas von der Zukunftsagentur höre, dann immer nur »Gewerbeflächen«, sagt Andreas Büttgen von Buirer für Buir. »Wir dürfen aber nicht von einer zerstöre­rischen Großindustrie zur nächsten kommen, wir brauchen kleinere und mittlere Strukturen.« Auch die werde man fördern, so Sterck. »Aber unsere zentrale Aufgabe ist, neue Arbeitsplätze zu schaffen, damit die Wertschöpfung, die früher von RWE ausging, neu geschaffen wird.« Er hätte gern ein Tesla-Werk in der Region gehabt, und man halte entsprechend große Industrieflächen weiterhin vor.

Da platzt David Dresen der Kragen. Sein Dorf Kuckum soll bald dem Tagebau Garzweiler weichen. »RWE hat mit den Kommunen immer unter einer Decke gesteckt! Das mit der Zukunftsagentur ist doch jetzt der gleiche Scheiß!« Wenn kein Bürger oder Tagebaubetroffener in den entscheidenden Gremien der Agentur sitze, dann »ist es doch klar, dass die keine Bürgerbeteiligung hinkriegen.« Daraufhin erntet er lauten Applaus, einige johlen. Sterck muss jetzt los, die Tiefgarage schließt. Zum Dank drückt ihm der Moderator einen handgefertigten Meisenknödel aus Düren in die Hand und verabschiedet ihn mit den Worten: »Dann befreien Sie mal schnell Ihr Auto und kommen gut zurück nach Köln!«

Die Frage bleibt, wie ernst es mit der Bürgerbeteiligung gemeint ist. Die Zukunftsagentur lässt sich dabei von einer renommierten Agentur aus Berlin beraten. »Die Bürger bekommen die Möglichkeit, an der nächsten Version des Wirtschafts- und Strukturprogramms mitzuschreiben«, sagt Sterck später am Telefon. »Das ist nichts Geringeres als die programmatische Basis für die Ver­teilung der Gelder.« Die Erstversion freilich hat die Zukunfts­agentur selbst geschrieben. Der Knackpunkt sei aus seiner Sicht die Flächenkonkurrenz, sagt Sterck.
»Wir können jede Fläche nur einmal vergeben.« Auch für Köln sei das Rheinische Revier übrigens eine wichtige ­Entwicklungsfläche. Das zeige sich auch im aktuellen Regionalplan der Bezirksregierung: »Seine Bedarfe an ­Flächen kann Köln nur zu einem Drittel auf dem eigenen Stadtgebiet decken.«

Antje Grothus arbeitet seit Anfang des Jahres als »Koordinatorin für nachhaltigen Strukturwandel« bei der Klima-Allianz Deutschland, einem Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen für den Klimaschutz. Natürlich brauche man neue Arbeitsplätze und Wertschöpfung, sagt Grothus, aber ebenso brauche man auch Lebensqualität und Naturschutz. »Wir haben doch nicht den Hambacher Wald gerettet, damit die uns jetzt einen Containerbahnhof daneben setzen.« Die wiedergewonnene Landschaft dürfe nicht zubetoniert werden. »Wir brauchen eine Grünvernetzung der alten Bürgerwälder des Rhein-Erft-Kreises bis in die größeren Städte, etwa ins Kölner Grünsystem. Die Wälder sind unsere Kühlschränke.«

Doch im Kohlegesetz findet sich zur Zukunft des Hambacher Waldes kein Wort mehr. Antje Grothus sieht es als »Geburtsfehler«, dass das Gesetz die Empfehlungen der Kohlekommission nicht komplett aufgenommen habe, ja ihnen zum Teil sogar zuwiderlaufe. Man habe die Dörfer und den Wald retten wollen. Davon sei nun keine Rede mehr. Der Tagebau Garzweiler soll fast wie geplant weiterlaufen, fünf Dörfer dafür noch weichen. »Dafür soll der kleinere Tagebau Inden, für den kein Mensch mehr hätte umgesiedelt werden müssen, für den es schon fertig ausgearbeitete Rekultivierungspläne gab, jetzt verkleinert werden.« Außerdem kritisiert sie, dass die schmutzigsten Kraftwerke erst ganz am Ende vom Netz gehen sollen. Zusammen mit acht anderen ehemaligen Mitgliedern der Kohlekommission hat sich Grothus öffentlich vom Entwurf des Kohlegesetzes distanziert.

Eine »Schande« sei es außerdem, dass das Dorf Manheim beim Tagebau Hambach abgebaggert werden soll. Hier stehen nur noch wenige Häuser, die denkmalgeschützte Kirche soll demnächst abgerissen werden. Dabei will RWE hier gar keine Kohle mehr abbauen, sondern lediglich Abraum gewinnen, um die Böschungen des Tagebaus zu stabilisieren. »Niemand setzt sich für den Erhalt von Manheim und unsere Lebensqualität in Buir ein«, sagt Grothus. »Vom Kerpener Bürgermeister habe ich nie einen Ton dazu gehört.«

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Für eine Vernetzung der Wälder setzt sich auch der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) NRW seit Jahren ein. Hambacher Wald, Merzenicher Erbwald und Steinheide sollten das Kerngebiet eines Biotopverbunds im gesamten Rheinischen Revier werden, das Hambach im Süden mit Garzweiler im Norden wieder verbindet. Ende Februar hat RWE sein neues »Revierkonzept« vorgelegt; die drei Waldstücke werden demnach nicht abgebaggert. »Die Frage ist aber, wie regenerationsfähig sie sind, wenn zwischen Hambacher Wald und Steinheide der Tagebausee liegt. Wie soll sich dann die Wildkatze wieder ansiedeln?«, sagt Dirk Jansen vom BUND NRW. Eine Vernetzung sei so unmöglich. Dadurch, dass der Tagebau den Hambacher Forst im Osten umfahre, werde der Wald verinseln. Und südlich des Waldes wird Kies abgebaut — der Regionalplan der Bezirksregierung Köln sieht vor, diese Flächen sogar noch zu erweitern.

»Beim Strukturwandel werden Freiraumflächen nicht erwähnt. Die Freiraumqualität darf aber nicht zu kurz kommen«, so Jansen. »Die Empfehlungen der Kohlekommission werden mit dem Revierkonzept von RWE torpediert.« RWE wolle gewachsene Böden abbaggern, um sie im Tagebauloch zu verkippen. Wo heute die wenigen übriggebliebenen Häuser von Manheim stehen, soll sich nach den Plänen von RWE der Restsee erstrecken. Ökologisch sei der weitgehend wertlos, so Jansen. »Er kann keinesfalls das ausgleichen, was mit dem gewachsenen Boden verloren geht.« Bis der Restsee gefüllt ist, was auch über eine Pipeline vom Rhein geschehen soll, werden 40 bis 50 Jahre vergehen. Die Böschungen müssen, damit sie stabil bleiben, über das Ende des Tagebaus hinaus entwässert werden. An anderen Stellen wird der Grundwasserspiegel wieder ansteigen. Durch das jahrzehntelange Entwässern hat sich der Boden aber großräumig abgesenkt — und dieser Prozess sei kaum reversibel, so Jansen. »Diese Bereiche werden beim Wiederanstieg des Grundwassers absaufen. Vielleicht können wir dann auf der A61 Kanu fahren.« In jedem Fall werde der Wasserhaushalt die Region noch lange nach Tagebauende beschäftigen. Einen Fonds für mögliche Folgeschäden gibt es bei RWE aber nicht. Anders als der Steinkohleabbau verursacht die Braunkohle offiziell keine Ewigkeitskosten.

Wie standsicher die Seen sind, welche Wasserqualität sie haben werden — darüber weiß man im Grunde nichts. Noch nie hat jemand so tiefe und große Seen angelegt. »Es gibt kein Beispiel dafür«, so Jansen.

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Die schwarz-gelbe Landesregierung erarbeitet gerade ein »Entfesselungspaket«, damit die Kommunen den Strukturwandel schneller und unbürokratischer bewältigen können. Um eine neue Leitentscheidung und einen neuen Braunkohleplan zu erstellen, hat man früher zehn, fünfzehn Jahre gebraucht. So viel Zeit hat man jetzt nicht mehr. Auch an einer neuen »Handreichung zum Artenschutz sowie zu immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren« arbeitet die Regierungskoalition. Soll hier ganz nebenbei der Arten- und Immissionsschutz ausgehebelt werden? »Die Pläne sind noch nicht konkret. Aber wir werden keine Verschlechterungen des Umwelt- und Artenschutzes hinnehmen«, sagt Wibke Brems, Landtagsabgeordnete der Grünen.

Die Landesregierung verspricht auch, Verbände an der neuen Leitentscheidung zu beteiligen. Doch Dirk Jansen ist skeptisch. »Wenn der Konsultationsprozess von 2014 die Blaupause sein soll, dann ist das eine Pseudo-Beteiligung. Unsere Stellungnahmen und Gutachten wurden alle gnadenlos ignoriert.« Auch Wibke Brems von den Grünen glaubt nicht, dass sich viel ändern wird. »Die Bergbau­behörde war immer sehr nah an den Bergbautreibenden.« Jansen fragt sich, warum RWE erst sein neues Revierkonzept vorlege, und dann das Land die Leitentscheidung erarbeite. »Es müsste doch umgekehrt sein. Das Land müsste Vorgaben machen, und RWE daraufhin seine Planung anpassen.«

Während in Morschenich die Vorbereitungen für das Konzert in der Kirche laufen, herrscht wenige Hundert Meter weiter im »Hambi-Camp 2.0« schlechte Laune. Das liegt nicht nur am Matsch, der sich hier in jeder Ecke ausbreitet. Vor anderthalb Jahren hatten Aktivisten aus dem Ham­bacher Wald ein Haus in Manheim besetzt, um es vor dem Abriss zu schützen. Daraufhin bot ihnen eine ältere Frau aus Morschenich an, dass die Aktivisten neben ihrem Haus ihre Zelte aufschlagen können. Seit Anfang 2019 sind sie hier, mit ein paar Wohnwagen, zwei Küchen unter freiem Himmel und einem Dutzend Zelten.

»Herzlich willkommen«, hat jemand auf ein Schild gesprüht. Es gibt eine Fahrradwerkstatt, einen Umsonst­laden, ein Kompostklo, eine Waschstraße und einen Infostand, der immer besetzt ist. Dort sitzen ein junger Mann mit eindrucksvollem Bart, der seinen Namen lieber nicht sagen will, und ein anderer, der sich als Joker vorstellt. Gerade fährt wieder ein Auto vom RWE-Werkschutz vorbei, der Fahrer guckt in Richtung Camp, die Campbewohner gucken zurück. Das gehört zur Routine wie der Abwasch und das Plenum. Sie hätten guten Kontakt zu den Flüchtlingen im Dorf, erzählt Joker. Ansonsten sei das Verhältnis zu den Dorf­bewohnern eher schwierig. »Wir respektieren das. Einige haben lange für RWE gearbeitet.« Trotzdem versuche man, auf die Menschen zuzugehen, und lade sie etwa zum kostenlosen Mittagessen am Sonntag ein. »Was viele nicht verstehen: Wir sind ja nicht nur hier, um gegen die zerstörerische Kohle zu protestieren. Uns geht es hier um eine neue Lebensform.«

Fast jeden Tag gebe es kostenlose Workshops, im Handwerken, Malen oder was Politisches. »In den Menschen steckt so viel drin, die können so viel lernen«, sagt der Bärtige. Von all den Plänen des Bürgermeisters für Morschenich halten sie nicht viel, das Konzert in der Kirche finden sie »heuchlerisch«, dort stehe auch ein Polizist auf der Bühne, der an der Räumung im Ham­bacher Forst beteiligt gewesen sei. »Hier geht es wieder nur um Profit. Wir brauchen nicht nur Forschungszentren, sondern Sozialzentren.« Sie wollen lieber Gärten anlegen, Freiräume erhalten. Vor allem ist ihnen wichtig, dass alle Bewohner bleiben dürfen oder zurückkehren können. »Morschenich muss weiter als Wohnraum genutzt werden.«

Beim Konzert sind dann alle Bänke besetzt, auch die Gerdens, die ihr Haus in Morschenich zurückkaufen wollen, sind gekommen. Sie sind ein wenig nervös, denn auch vom Bürgerbeirat sind viele hier, die das Konzert in der Kirche erst nicht wollten, und die Morschenich lieber schnell abgerissen sähen. Auch Bürgermeister Gelhausen merkt man die Aufregung an. Doch der A-Capella-Chor samt Polizistensänger kommt beim Publikum gut an, bald fühlen sich alle wohler. Gelhausen ist erleichtert. Er plant schon seine nächste Veranstaltung: Er will einen Wald­spaziergang machen. Mit Braunkohlegegnern — und dem Revierförster von RWE.