Die ganze Welt passt in New England: Charles Ives auf einer Wanderung

Sounds Big!

Mit Charles Ives (1874–1954) triumphierte erstmals die amerikanische Avantgarde über die europäische Tradition — doch sein Erfolg hatte für den Komponisten fatale Folgen

Am 6. Mai wäre es soweit gewesen: Die »Universe Symphony« von Charles Ives wäre im Rahmen des »Acht Brücken«-Festivals in den Sartory-Sälen aufgeführt worden. Ein Höhepunkt des Festivals. Und eine Seltenheit. Denn die sinfonische Musik von Ives ist sehr komplex und raumgreifend. Nur wenige Veranstalter und Ensembles wagen sich an diese Herausforderungen. Das Festival musste am 9. April abgesagt werden, aus den bekannten Gründen. Einzigartigkeit und Relevanz der Musik von Ives bleiben davon natürlich unberührt, weswegen wir uns für den folgenden Text ent­schieden haben.

(Die Redaktion)

Seine Vision ist gewaltig. Die »Universe Symphony« (1911–1928) soll unter freiem Himmel von mehreren, Kilometer voneinander entfernt positionierten Orchestern mit insgesamt 4250 Musikern  aufgeführt werden. Die Musik­gruppen verteilen sich in Tälern und auf Berghöhen, das Publikum wandert zwischen den Klang­körpern in der Landschaft umher und entscheidet, welchen Klangpfaden es folgt.

Die Musik ahmt dabei, so die Vorstellung von Charles Ives, den »ewigen Puls« und die »planetarische Bewegung der Erde« nach. Doch der US-amerikanische Komponist, der seine Heimat, die Ostküste, so gut wie nie verließ, wusste, dass eine Landkarte nicht die Landschaft ersetzt, und so harrt die Monumentalkomposition bis heute ihrer vollumfänglichen Umsetzung. Dass die Sinfonie auch auf dem Papier unvollendet blieb, erscheint bereits aus ihrer Anlage folgerichtig. Ausgearbeitet sind lediglich Ausschnitte, zudem gibt es ein Konvolut aus losen Notenblättern und Notizen zu Verläufen, Tempi und Phasenverschiebungen. Ives hoffte darauf, dass sich irgendwann ein Komponist finden würde, der seine Gedanken weiterführen und das Werk vollenden würde (bis heute mehr oder minder vergeblich).

Der 1874 in einer Kleinstadt 80 Kilometer nördlich von New York geborene Ives arbeitete über Jahrzehnte an seinem Opus Summum. Wesentliche Ideen sollen dem Komponisten 1915 bei einem Besuch in den Andirondack Mountains gekommen sein: Vermutlich entstand die utopische Idee einer komponierten Klanglandschaft beim Betrachten der bukolisch bewaldeten Berggipfel. Bereits die amerikanischen Romantiker hatte sich von ihnen zu ihrem Transzendentalismus inspirieren lassen. Das Gebirge war Ende des 19. Jahrhunderts zum Zufluchtsort von zivilisationsmüden Städtern geworden. Auch Ives kam regelmäßig in die Andirondacks, um den Kopf frei zu bekommen. Dabei gehörte er nicht zu den Hobby-Alpinisten, die die Gipfel erklimmen mussten, um ihr Dasein mit Tiefsinn auszustatten: Ives bevorzugte es, die Berge aus der Ferne zu studieren. Sie waren ihm Objekte der Kontemplation über die Entstehung der Erde.

Wie Schichten in einem Gesteinsprofil überlagern sich in der Sinfonie unterschiedliche Zeitprinzipien — Passagen beginnen phasenverschoben, laufen kurz parallel, dann wieder auseinander. Die Komposition besteht entsprechend aus zwanzig voneinander unabhängig geführten musikalischen Linien, jede davon folgt einem eigenen Metrum. Zusammengefasst werden sie in drei Teile, deren Titel die biblische Schöpfungsgeschichte fortschreiben: »Past: Formation of the waters and mountains«, »Present: Earth, evolution in nature and humanity«, »Future: Heaven, the rise of all to the Spiritual«. Das Instrumentarium wird von Schlagwerk dominiert, unzählige Gongs, Basstrommeln, Pauken und Holz- und sogar Marmorblöcke ertönen gravitätisch, hinzu kommen drohende Bläser, verheißungsvolle Streicher. Ives’ Markenzeichen — das polyrhythmische und polyharmonische Klangbild — verdichtet sich zu einem Sinnbild metaphysischer Heilsgeschichte.

Ausmaße der Komposition und projektierte Aufführung folgen amerikanischem Large-Scale-Denken. Der überdimensionierte Maßstab steht zwar in der Tradition der großen Sinfonien europäischer Kunstmusik, scheint diese aber auf, will man im Klischeebild bleiben, »amerikanische Weise« zu übertrumpfen. Nicht ganz zufällig fand der Psychoanalytiker und Ives-Biograf Stuart Feder in der »Universe Symphony« den kindlich-größenwahnsinnigen Ausdruck der Midlife-Krise eines Mannes, der Impotenz, geistige Zerrüttung und Tod fürchtet.

Mit Ives beginnt sich die US-amerikanische Musik von der Tradition der europäischen Kunstmusik zu emanzipieren. Will man überspitzen, ist Ives der Vollender europäischer Programmmusik und gleichzeitig Pionier der amerikanischen Moderne. Aus dieser Stellung lässt sich die Anerkennung verstehen, die der dem breiten Publikum Zeit seines Lebens weitgehend unbekannt gebliebene Komponist von den unterschiedlichsten Kollegen bekam: Arnold Schönberg zollte dem unberirrbaren Einzelgängertum Ives Respekt (während er im kalifornischen Exil eifersüchtig über die Urheberschaft »seiner« Zwölftontechnik wachte) und Gustav Mahler äußerte Bewunderung: Er wollte als erster Ives’ 3. Sinfonie in Europa zur Aufführung bringen.

Die US-Musik-Avantgarde und -Prominenz setzte sich ohnehin zu Ives in vielfache Beziehung: die Mavericks Lou Harrison und Henry Cowell als Freunde und Förderer, der jüngere, aber weitaus populärere Kollege Aaron Copland als lobender Kritiker und die bekannten Dirigenten-Komponisten Bernard Herrmann (of Hitchcock-Fame) und Leonard Bernstein als Vermittler für das große Publikum. Letzterer sorgte dafür, dass Ives postum als »erster wahrer amerikanischer Komponist« gefeiert wurde. In den 60er Jahren wurde Ives dann auch von der Popavantgarde wiederentdeckt: Frank Zappa war einer der ersten (er setzte Ives 1966 auf die berühmte Einflussliste seines »Freak Out!«-Albums), Bands wie Grateful Dead folgten.

Bernstein zufolge war Ives ein liberal-kapitalistischer Yankee, der die europäische Avantgarde links überholte. Er war tatsächlich eine überaus schillernde Figur, in der sich die Musikgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts mit ihrer beginnenden Dominanz US-amerikanischer Kultur spiegelt. Dafür muss man nur einen Blick in Ives’ prägende Jahre und Lebensumstände werfen. Sein Vater war Kapellmeister im Bürgerkrieg, dabei wenig uniform im Denken, was unter anderem durch eine berühmte Anekdote überliefert ist: So ließ George Ives zwei Kapellen mit zwei unterschiedlichen Stücken aufeinander zu und dann aneinander vorbei marschieren, nur um den Effekt des wachsenden und sich auflösenden Klangchaos zu studieren. Ein Ereignis, das seinen Sohn offensichtlich beeindruckte.

Diese sich »natürlich« ergebende Dissonanz findet sich später auch in seinem eigenem Vokabular wieder. Vieles, was sich in der europäischen Musikgeschichte aus dem Fortschrittsgedanken heraus zwingend entwickelte und als Dogma in die Komponistenköpfe hineinschrieb, entstand bei Ives zufällig und aus alltäglichen Beobachtungen heraus. Diese Unabhängigkeit, die Ives mit dieser unakademischen Entwicklung eigener Gestaltungsmittel bewies, drückte sich auch in der materiellen Basis seiner künstlerischen Existenz aus. Er arbeitete hauptberuflich im Versicherungswesen, gründete sogar mit einigem Erfolg eine eigene Versicherungsgesellschaft und kam zu Vermögen. Das Komponieren hatte Ives zwar im Studium bei einem in München ausgebildeten Lehrer (der ihm Brahms und Bach »beibrachte«) gelernt, praktizierte es aber nur als »Hobby« — wenn auch mit größter Intensität. Jede freie Minute steckte er nach Feierabend und am Wochenende in seine musikalische Arbeit. Diese Kraftanstrengung forderte ihren Tribut.

Eines Tages, so ist es von seiner Frau überliefert, kam Ives mit Tränen in den Augen aus dem Komponierzimmer im Obergeschoss seines holzverkleideten New-England-Hauses die Treppe herunter und verkündete, dass er nicht mehr komponieren könne. Ursache des Zusammenbruchs: Burn-Out, Depressionen, fortschreitende Diabetes, auch sein Herz machte nicht mehr mit. Bereits 1918, mit Mitte 40, hatte Ives den ersten Infarkt, danach schränkte er seine Kompositionsarbeit drastisch ein, 1930 zog er sich ganz zurück.

Ives ist auch ein Beispiel für einen Ausnahmekünstler, der sich in der Doppelbelastung von kapitalistisch-wirtschaftlichem und nicht-kommerziell-künstlerischem Arbeiten zerrieb. Und in diesem Dilemma wirkt er zeitgenössischer als durch seine mitunter atemberaubend moderne Musik.