Her mit den Produktionsmitteln! Jimi Hendrix mit Buddy Miles (Band of Gypsys)

Extrem düsterer Soul

Jimi Hendrix zwischen Selbstbestimmung und Ausverkauf

Neues von Jimi Hendrix! Die Nachricht klingt absurd. 2020 jährt sich sein 50. Todestag, lange her. Seit über zwanzig Jahren haben uns seine Familie und sein hingebungsvoller, sensibler Tontechniker Eddie Kramer (auch schon bald 80) mit einem Strom von unveröffentlichten Studioaufnahmen und Konzertmitschnitten versorgt, allesamt sehr hochwertig und durchaus »historisch-kritisch« aufbereitet. Irgendwann muss das Archiv doch erschöpft sein. Und überhaupt, welche Impulse sollen eigentlich noch von weiteren Hendrix-Memorabilia ausgehen?

Ein absolutes Nerd-Buch wie »Jimi Hendrix. Alle Songs. Die Geschichte hinter den Tracks« (Din-A4-Format, fast 600 Seiten!) bringt tatsächlich Tonnen unnötiger historischer Details, aber doch auch schöne Hinweise: Dass Hendrix zu seinem charakteristischen Sound erst im Juni 1966 fand, nur wenige Wochen vor seiner Entdeckung, als er nämlich in New Yorker Clubs die Fuzzbox zu verwenden begann, um seine Gitarren so geil aufgemotzt, übersteuert und magmaheiß klingen zu lassen. Den Reim darauf muss der Leser sich selber machen. Alles geschah damals binnen weniger Monate und Wochen, eine Revolution, und Hendrix, halb hineinstolpernd, halb selbstbewusst, entpuppte sich als Auge und Ohr des Orkans.

Dreieinhalb Jahre später steht er wieder in New York auf der Bühne mit seiner allzu kurzlebigen Band of Gypsys, die in vier Silvester-Konzerten den nächsten Hendrix präsentiert: auf dem Sprung, alle Rock- und Beat-Fesseln abzulegen und einen extrem düsteren Soul (unbedingt hören: die »Machine Gun«-Elegie!) und sehr bluesigen Funk zu zelebrieren. Alle vier Konzerte sind jetzt erstmals gemeinsam veröffentlicht worden.

Man muss diese neuen Dokumente gegen den Strich lesen und hören. Hendrix wurde unmittelbar nach seiner Ankunft in London am 24. September 1966 als Gitarrengott vermarktet, er ließ das gerne zu. Gleichzeitig begann er, die Bedingungen über seine Aufnahmen, seine Bands und Konzerte selber zu bestimmen, tragischerweise gelang das nur in Ansätzen, aber wenigstens im Studio selbst gelang es ihm immer besser. Wahrscheinlich war er nur im Studio wirklich frei.

In Hendrix‘ Vita wiederholt sich das Drama des Künstlers zwischen Autonomie und Fremdbestimmung. Die Facetten seine Fremdbestimmung kriegen wir seit 50 Jahren um die Ohren gehauen: in Millionen von Foto-, Plakat- und Covermotiven. Die Autonomie drückt sich vor allem technisch aus: in Hendrix‘ obsessiver Suche nach dem angemessenen Sound. Instinktiv wusste er, dass er die Kontrolle über die Produktionsmittel braucht. Und das ist ja eine sehr gegenwärtige Botschaft.

Buch: Jean-Michel Guesdon, Philippe Margottin, »Jimi Hendrix. Alle Songs. Die Geschichte hinter den Tracks«, Delius Klasing Verlag, 59,90 Euro

Tonträger: Jimi Hendrix, »Songs for Groovy Children: the Fillmore East
Concerts«, 5 CDs/8LPs (Sony Music)

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