Schon lange nicht mehr selbstverliebt: Session aus dem Boiler Room

Bewegung im Stillstand

Wie sich die Clubszene in Zeiten von Corona über Wasser hält

Der Kulturbetrieb weltweit steht still. Millionen von Musikerinnen, Künstlern und anderen Kulturschaffende bangen um ihre Existenz. Veranstalter von Festivals und Clubnächten stehen vor dem finanziellen Aus, da sie oft mit nur minimalen Margen von Event zu Event planen. Vielerorts versuchen Institutionen mit Livestreams ihres Programms die Aufmerksamkeit und Zuwendung von Fans zu erlangen. Gleichzeitig finden Produzenten mehr Zeit für den kreativen Teil ihrer Arbeit oder denken an neue Wege, diese zu vermarkten.

Seit Mitte März schon finden so gut keine Kulturveranstaltungen mehr statt, die Ansteckungsgefahr wäre zu hoch. In vielen Ländern steht auf Zuwiderhandlung Geld- oder sogar eine Gefängnisstrafe. Die Clubs haben ihr Programm bis auf Weiteres abgesagt. Einige Festivals wie das Coachella (Kalifornien) oder Primavera Sound (Barcelona) versuchen noch, ihren Termin ins letzte Quartal 2020 zu verschieben. Die allermeisten Szene-Schwergewichte, von Glastonbury oder Boom über Fusion und Burning Man haben ihre Pläne für dieses Jahr bereits gänzlich aufgegeben.

Diese Ausfälle bringen nicht nur Frust und Kummer für die potenziellen Besucher mit sich, sondern vor allem auch eine finanzielle Notsituation für all diejenigen, die sich im Kulturbetrieb um ihr Einkommen bemühe. Alleine der Berliner Club-Sektor beschäftigt etwa 9000 Mitarbeiter. Um deren Arbeitsplätze zu retten, hat die Berliner Clubcommission in Zusammenarbeit mit ARTE und anderen Medienpartnern die Streamingplattform United We Stream ins Leben gerufen. Unter deren Banner werden nun täglich DJ-Auftritte aus leeren Clubs, aber auch Diskussionsrunden rund ums Thema gefilmt und veröffentlicht. Das Programm dient der Spendensammlung, seit Mitte März wurde binnen vier Wochen über 300.000 Euro generiert. Auch internationale Partnerclubs sind bei United We Stream eingestiegen: Shelter (Amsterdam), Grelle Forelle (Wien) und Warehouse Project (Manchester) waren Anfang April online, neben Showcases aus Clubs wie der Distillery in Leipzig oder dem Harry Klein in München.

Überhaupt scheint sich das Livestream-Format — einstmals vom Boiler Room eingeführt und zuerst noch als selbstverliebtes Promotion-Tool belächelt — in Zeiten von Corona als die Antwort auf Quarantäne und Isolation zuhause herauszuschälen. Der Kölner Club Gewölbe im Westbahnhof hat so schon mehrere Veranstaltungen mit hochrangigem, lokalen DJ-Aufgebot vor Online-Publikum abgehalten. Dabei wurde auch auf die prekäre Situation der Mitarbeiter und dem Club als solchen hingewiesen, jeweils mit der Möglichkeit, bereits jetzt Gutscheine für zukünftige Partys zu erwerben, während der Club selbst noch geschlossen bleibt. Das soll es erleichtern, die finanzielle Durststrecke unbeschadet zu überstehen. Der Veranstaltungsraum des Vereins Niehler Freiheit hat sein Programm in mancherlei Hinsicht sogar ausgebreitet: Wo der reale Raum den akuten Limitierungen der Krise unterliegt, nutzt man die Website als virtuelle Erweiterung der Halle an der Vogelsanger Straße. In einer Mischung aus Archivmaterial und Online-Inhalten werden hier neben Konzerten, DJ-Sets und digitalen Barabenden auch Talkrunden zum aktuellen Diskurs oder sogar Yoga-Kurse angeboten. Während die Entschleunigung Baumaßnahmen möglich macht, eröffnet die Online-Plattform neue, den eigenen Interessen entsprechenden Entfaltungsmöglichkeiten.

Aus der gesamten Kölner Kulturlandschaft sendet der »Cologne Culture Stream«, und global gesehen hat sich das Online-Musikmagazin »Resident Advisor« der Rettung der Szene verschrieben. Das Magazin versucht, mit »Streamland« eine gebündelte Anlaufstelle zu bieten, um Live-Stream-Formate zu erstellen und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Unter der Parole »Save Our Scene« wird außerdem dazu aufgerufen, bereits erworbene Tickets für notgedrungen abgesagte Veranstaltungen nicht zurückzugeben, sondern das Eintrittsgeld als Spende für die bedrohten Promoter zu verstehen. Ersten Schätzungen nach dürften alleine hierdurch mehrere Million zusammenkommen.

Das japanische Festival Rainbow Disco Club, deren Hauptverantwortlichen DJ Nobu und Mars89 im März eine Petition zur staatlichen Unterstützung der dortigen Kultureinrichtungen aufsetzten, hätte eigentlich Ende April stattfinden sollen, stattdessen hat man sich nun zur Austragung in einer exklusiven Livestream-Variante entschieden; der Link ist kostenpflichtig, um somit wenigstens einen Teil der entstandenen Kosten wieder einzuspielen. Angesichts der vielen Umsonst-Streams, teils von wahren Allstars der Undergroundszene, bleibt allerdings abzuwarten, ob sich das Modell der Verkaufslinks auch über Fankreise hinaus durchsetzen kann. Denn zahlreiche Künstler senden mittlerweile täglich aus ihren Wohnzimmern, darunter etwa Laurent Garnier, Nicolás Jaar oder auch James Blake.

Der direkte Weg, einer Musikerin oder einem Musiker unter die Arme zu greifen, ist natürlich weiterhin dessen Musik zu erstehen. Auch wenn Plattenläden nur noch vereinzelt offen haben, bieten sie vielerorts Gratisversand an, um wenigstens die Stammkunden mit frischem Vinyl zu versorgen.

Online-Retailer Beatport hingegen hat mit einem 34-stündigen Stream-Event mit Sets von u.a. Carl Cox oder Bonobo ganze 200.000 Dollar für einen COVID-19-Fonds der WHO gesammelt. Die bei Künstlern besonders beliebte Plattform Bandcamp, die so schon rund achtzig Prozent ihrer Einnahmen an die Musiker weitergibt, verzichtete 24 Stunden lang auf jegliche Gewinnbeteiligung und leitete ihre kompletten Tagesumsätze weiter.

Neben Clubs und Promotern trifft der Veranstaltungsausfall nicht zuletzt die selbstständigen, unabhängig von Clubs arbeitenden und auf Gigs angewiesenen DJs. Wer gerade seinen Tourkalender gefüllt hatte, Flüge gebucht und auf seine Jahreseinnahmen durch die Tourneen angewiesen war, steht erst mal mit Investitionskosten und meistens keinen Rücklagen oder anderweitigen Verdienstmöglichkeiten da. Der niederländische DJ und Produzent Martyn, der seit Jahren in Washington D.C. lebt, nutzt den Totalausfall, um endlich sein lange geplantes, privates Mentoringprogramm auf den Weg zu bringen: Für 40 US-Dollar pro Monat kann man sich nun in Video-Sessions Unterricht im Musikproduzieren oder Einheiten zum Music Business vom erfahrenen Veteranen anschauen.

Gerade die Clubszene, die mittlerweile stark vom DJ-Jetset und seinen modernen Möglichkeiten abhängt, wird eine lange Zeit brauchen, um sich von der aktuellen Krise erholen. Selbst wenn die Restriktionen zum Ende des Sommers gelockert werden und Festivals wie Feten wieder erlaubt sein sollten — Groß-Events wie die Fusion lassen sich nicht so einfach um ein paar Monate verschieben. Die Vorbereitungen solcher Veranstaltungen laufen bereits viele Monate im Voraus und müssen langfristig planbar sein. Es gibt zwar vereinzelt Bestrebungen, ähnlich wie bei den Olympischen Spielen geschehen, alle Bookings aus 2020 weltweit auf 2021 umzuverschieben — das würde enormen logistischen und somit auch finanziellen Aufwand ersparen, was wiederum den Agenturen und Künstlern zugute kommen könnte.

Doch auch so ist es mehr als unwahrscheinlich, dass die Club- und Festivalszene, so wie sich zuletzt entwickelt hat — mit riesigen Veranstaltungen, exorbitanten Gagen und viel Brimborium — zurückkommt. Man muss den ökonomischen Gesamtzusammenhang der Krise im Auge behalten, alle Sektoren, nicht nur die Kultur, leiden. Menschen werden insgesamt weniger Geld ausgeben können, das gilt auch für Clubbesuche. Die unabwendbare Rezession wird einige kostenintensive Geschäftsmodelle, zum Beispiel die Megafestivals und Superstar-Gagen außer Gefecht setzen. Künstler, die es im Siegeszuge von EDM mit mittelmäßigen Tracks und effekthascherischen Bühnenshows zu Erfolg gebracht haben, werden vermutlich auf der Strecke bleiben. Im Gegensatz dazu könnten finanziell kleinere Kreative, die sich dank standing in der lokalen Community und mit gut vernetzten Labelstrukturen einen sicheren Stand erarbeitet haben, als Gewinner aus dieser Krise hervorgehen.

Schon früher haben Systemkrisen eine kretaiven Schub in den Künsten mit sich gebracht: etwa Punk-Rock als Antwort auf Thatcher und die Krise des Wohlfahrtsstaates am Ende der 70er, Acid House folgte dem Black Monday, dem Börsendesaster in New York. Selbst die EDM-Explosion mit Acts wie David Guetta, Skrillex und Co. kann als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise 2008 gesehen werden. Auch die Corona-Krise wird ihre kulturelle und musikalische Reflektion nach sich ziehen. Aber dazu müssen wir als Produzenten wie Konsumenten bereit sein, unsere Prioritäten als Gesellschaft insgesamt zu überdenken.