Widersprüche sichtbar machen

Janice Mitchell erforscht die amerikanische Kunst im Museum Ludwig und spricht mit uns über Bürgerrechte und die blinden Flecken der Kunstgeschichtsschreibung

Frau Mitchell, was ist das Konzept der neuen Ausstellung »Mapping the Collection«?

Die Grundidee war, von der Sammlung des Museums ausgehend eines ihrer sogenannten »Highlights« zu sichten: die Pop Art-Collection und Werke US-amerikanischer Kunst. Ich habe angefangen zu untersuchen, wie die verschiedenen Künstler*innen auf die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in den 60er und 70er Jahren reagiert haben. In diese Zeit fallen die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerika­ner*innen, der indigenen Bevölkerung und der Latinx-Community, auch die feministische und die frühe LGBTIQ*-Bewegung. Das Museum besitzt beispielsweise eine Reihe von Drucken von Robert Indiana, von denen einige ganz klare Verweise auf diese Protestbewegungen zeigen. Oder Arbeiten von Künstlern wie David Wojnarowicz, die sich damit auseinandergesetzt haben, was es heißt, als schwuler Mann in der amerikanischen Gesellschaft zu leben.

Die ständige Sammlung konzentriert sich primär auf die Identität des weißen männlichen Künstlers, Ikonen wie Andy Warhol, Roy Lichtenstein oder Jasper Johns. Und auf Aspekte von Form und Ästhetik. Fehlen Ihnen postkoloniale, feministische, queere Positionen?

Nein, das ist alles da. Man hat es auch wahrgenommen, aber weniger in Hinblick auf historische Entwicklungen, die ja eine wichtige Rolle spielen. So hatte Leon Polk Smith, einer der Begründer der Hard-Edge-Malerei, Vorfahren, die Cherokee waren. Er hat den Südwesten bereist und die Navajo-Kultur kennengelernt. Seine Motivation sind aber nicht in erster Linie seine indigenen Wurzeln, sondern seine Faszination für Farbe und Fläche, inspiriert von zum Beispiel Mondrian und eben der indigenen Kultur, mit der er ausgewachsen ist und der er im Südwesten der USA begegnet ist.

Welchen eigenen Bezug haben Sie zu den Protagonisten des Museums?

Zu Warhol und Lichtenstein vielleicht weniger. Mein Interesse liegt eher im Bereich Konzeptkunst. Besonders Martha Rosler, ihre Schriften und ihre Persönlichkeit haben meine Haltung zu Kunst stark beeinflusst. Die 60er und 70er Jahre sind für mich auch persönlich eine wichtige Zeit. Ich bin Deutsche, aber auch Amerikanerin. Wenn ich mir Ausstellungen US-amerikanischer Kunst ansehe vermisse ich oft schwarze, indigene und Latinx-Künstler*innen, deren Werk als Teil der amerikanischen Kunstgeschichte anerkannt werden sollte.

Was bewegt Sie an der amerikanischen Geschichte besonders?

Ich finde die Widersprüche interessant, die vielen Dinge, die nicht funktio­nieren und eigentlich funktionieren sollten. Es gibt so viele Widersprüche in der amerikanischen Geschichte! Zwischen historischen Fakten und dem Selbstverständnis der USA. Man sollte meinen, dass sich im Zuge der Bürgerrechtsbewegungen um 1970 etwas verändert hat, aber seitdem wird immer wieder deutlich, wie wenig sich strukturell verändert hat.

Die Ausstellung ist lange geplant und sollte eigentlich im April eröffnen.
Mit dem brutalen Tod von George Floyd hat der Rassismus jetzt einen ganz aktuellen Bezug.

Schwarze Menschen werden seit der Gründung der Vereinigten Staaten ermordet. Adam Pendleton greift das Thema in der Ausstellung auf. In einer Videoarbeit, die er zusammen mit Yvonne Rainer realisiert hat, liest sie eine Auswahl von Texten, die ihn beeinflusst haben. In denen geht es auch um die Ermordungen von Schwarzen, aber nicht nur, es ist auch ein künstlerischer Austausch zwischen Generationen.

Ist »Mapping the Collection« eine Art politisches Vorspiel zur großen Andy-Warhol-Schau im November?

Es sind sehr unterschiedliche Ausstellungen, auch wenn es in »Warhol Now« schwerpunktmäßig um den queeren Warhol gehen wird. Die Verbindung ist aber gegeben — über Themen, die seit einigen Jahren per se im Haus untersucht werden. Auch in der aktuellen Schau »HIER UND JETZT im Museum Ludwig«, die den Fokus auf die Kunst aus Afrika und der afrikanischen Diaspora richtet.

In Ihrem Blog zur Ausstellung ­schreiben Sie, dass aus dem Forschungsprojekt eine Ausstellung geworden sei. War das ursprünglich nicht geplant?

Nein, das hat sich erst im Laufe der Forschung entwickelt und war ein Vorschlag von Museumsdirektor Yilmaz Dziewior. Die Arbeiten der eigenen Sammlung habe ich dann um Leihgaben von Künstler*innen ergänzt, die bislang nicht im Bestand vertreten sind. Wir zeigen zum Beispiel zwei Arbeiten von Sharon Hayes; eine thematisiert die frühen Gay-Pride-Paraden und die andere bezieht sich auf die Ereignisse um den Parteitag der Demokraten 1968 in Chicago während des Vietnamkrieges, auf die Antikriegsproteste in der Stadt, auf die die Polizei mit exzessiver Gewalt reagierte. Ein anderes interessantes Beispiel ist T.C. ­Cannon (Kiowa/Caddo), ein indigener Künstler, dessen Arbeiten stark von der Pop Art beeinflusst waren. Inhaltlich spielt er mit Klischees und stereotypen Vorstellungen von Native Americans in den Vereinigten Staaten. Er zeigt Native Americans zwischen Popkultur und Tradition, so wie die Realität eben ist: Indigene Kultur entwickelt sich stets weiter und sie nimmt natürlich auch Bezug auf aktuelle Populäkultur.

Mit der Kunst- und Museumsbibliothek hatten Sie vermutlich sehr gute Voraussetzungen für Ihre Forschungsarbeit und Recherchen?

Ja, die ist super! Es finden sich dort nicht nur eine große Auswahl an Ausstellungskatalogen, sondern auch viele ältere Ausgaben von Artforum mit Rezensionen von Ausstellungen in den 1960er und 70er Jahren. Oder Leserbriefe von Künstler*innen, die Hintergrundinformationen zu Praxis, politischer Haltung, etc. geben. Hilfreich bei der Recherche waren aber auch die Kolleg*innen hier am Haus, einfach durch Gespräche und Hinweise. Eine schöne Art zu arbeiten.

Was wünschen Sie sich von der Ausstellung?

Ich erhoffe mir, dass die Ausstellung Leute anregt, über sich selbst nachzudenken. Darüber, wie sie sich in der Gesellschaft verhalten. Und ich wünsche mir, einen Beitrag zur Diskussion um Diver­sität und Inklusion im Museum zu leisten.

»Mapping the Collection«, Museum Ludwig, 20.6.–23.8., Di–So 10–18 Uhr, jeden 1. Do im Monat bis 22 Uhr

Janice Mitchell hat ihren Master in ­Culture, Criticism, and Curation gemacht und ­promoviert am Central Saint Martins in London über »Institutionskritik als Zeitgenössische Kunstpraxis«. Seit Juli 2018 arbeitet sie als Forschungs­stipendiatin der Terra Foundation am Museum Ludwig.