Haarlose Litfaßsäulen

Materialien zur Meinungsbildung /// Folge 223

Tobse Bongartz ist clean. Wenn ich seine Schallplattensammlung anschaue, sehe ich nur, was nach allgemeinem Verständnis akzeptabel ist. Keine Jugendsünden, keine ästhetischen Verirrungen. Es ist, als habe eine Expertenkommission die Sammlung kuratiert. Ja, leben denn Kunst und Kultur bloß vom kultivierten Geschmack und nicht von der Wildheit, dem Ungezogenen? Mir geht es nicht um den Tabubruch als schrille Geste. Ich möchte etwas zur Ehrenrettung des Banausentums, dem freundlichen Tabubruch, beitragen.

»Ich kenne mich nicht aus, aber ich kann sagen, was mir gefällt.« So spricht der Banause. Es ist ein guter Satz, weil er die die ehrliche Empfindung gegen das Kathederwissen in Anschlag bringt. Überraschend, in welcher Weise der Banause eigentlich zeitgemäß ist: Ihm gelten Autoritäten nichts, er erkennt sie nicht an — weil er gar nichts erkennt. Diese Selbstermächtigung ist das Ultramoderne am Banausentum. Der Banause redet niemandem nach dem Mund, der Banause ist vielmehr, heute sagt man: authentisch. Er ist frei. Und darin wiederum gleicht er dem Künstler selbst. Denn ist nicht auch der Künstler frei von allen Zwängen? So ist der Kunstbanause gewissermaßen ein nachschaffender Künstler — indem er die Rezeption des Kunstwerks an sich reißt, durch eigene Deutung nach Gutdünken umformt und unbekümmert weiterträgt, sei es auf den Parnass oder in den Orkan der Empörung. Ist also der Banause, der mit, sagen wir, Rothko nichts anfangen kann, womöglich interessanter als der, der dazu imstande ist und die üblichen Sätze sagt? Ist derjenige, der mit Rothko nichts anzufangen weiß, womöglich interessanter als Rothko selbst?

Gesine Stabroth freute sich sehr, als bei uns im Viertel die Litfaßsäulen anders aussahen. Anstatt mit Werbung waren sie beklebt mit Kunst. Als Banause habe ich das zuerst gar nicht erkannt. Ähneln sich Reklame und Kunst nicht oft? Wenn im Kino die Werbung vor dem Hauptfilm läuft, denke ich oft, der Film habe schon begonnen. Wenn man Kunst mit schöpferischer Kraft, gedanklichem Ausscheren und Bändigung des Stoffs mittels Geist und Geschick gleichsetzt, dann muss einen diese Erkenntnis, dass die Bezugnahmen und die Beziehungen zwischen Reklame und Kunst inniger sind, als man meinen möchte, sehr enttäuschen. Dass man Litfaßsäulen nun mit Kunst versieht, wie kommt das? Mir leuchtet nicht ein, was damit gewonnen ist. Ich finde, so eine Litfaßsäule steht ja vor allem im Weg und stört. Parkende Autos werden ja auch nicht besser, wenn man sie hochmodern anmalt. Und steht nicht schon zu viel herum? Da wundert es mich, dass ich noch nirgends gehört habe, dass jemand die Idee mit den verkünstelten Litfaßsäulen ablehnt. Wie kommt denn das? Selbst wirklich beeindruckende und freundliche Ideen wie Pazifismus, Fleisch­ersatz, Menschenrechte rufen doch auch Kritiker auf den Plan. Immer kann man das Haar in der Suppe finden — und dann mit Getöse den Ober anraunzen, dass diese haarige Suppe schlimmer sei als einen Bottich lauwarmer Gülle. Dass dies bei den Litfaßsäulen nicht geschieht, ist doch auffällig. Sind Litfaßsäulen durch die Kunst gegen Kritik abgesichert? Möchte der Litfaßsäulenkritiker nicht als Kunstbanause gelten? Ich will mal der Erste sein, der es wagt: Meinetwegen kann man die Litfaßsäulen — diese phallischen Denkmale kapitalistischen Zugriffs auf unser Denken, Fühlen und Wollen! — umstürzen. Gern bevor die Kunst draufgeklebt ist. Wem diese Geste zu auftrumpfend ist, kann doch danach an selber Stelle Bäume pflanzen oder ein Insektenhotel basteln. Das reichte doch schon für einen Katalogtext, der geschraubte Theorie und klima­politische Praxis verbindet.