Positionen als Arbeitsthesen: Florian Malzacher über »Gesellschaftsspiele«, Foto: Wolfgang Silveri

Safe Spaces und Brave Spaces

Florian Malzacher, früherer Leiter des Impulse Festivals, im Gespräch über »brave spaces«, kolumbianische Bürgermeister und politisches Theater

Irgendwo, aus einem Nebenzimmer der Berliner Wohnung, klingt Hörspielmusik: Das Kind ist krank, das Interview haben wir auf den letztmöglichen Termin verschoben. Florian Malzacher, Kurator für zeitgenössische Performance, früherer Leiter des Impulse Festivals und Autor des im Juli erschienenen Buches »Gesellschaftsspiele«, verhandelt am Telefon mit uns politisches Theater — und das Unterhaltungsprogramm seines Sohnes. Was dabei herauskommt? Ein ausgesprochen spannendes Gespräch über die Zukunft von Konflikten und die Frage, warum der Vorwurf, das Theater sei unpolitisch, nicht ganz richtig ist.


Herr Malzacher, woran denken Sie, wenn sie an politisches Theater denken?

Politisches Theater kann viele Formen annehmen, aber ich denke dabei eher nicht an das heute klassische Regietheater, wie man es aus den 70er oder 80er Jahren kennt. Natürlich geht es um politische Inhalte, aber auch die Form sollte mit dem politischen Anliegen korrespondieren — und da ist reine Repräsentation auf der Bühne oft eher nicht das richtige Mittel. Politisches Theater kann von der Umbesetzung einer existierenden Inszenierung an den Münchener Kammerspielen mit ausschließlich Schwarzen Schauspieler*innen, gemeint ist »Mittelreich« von Anta Helena Recke, bis zum New Yorker Aktivisten Reverend Billy und seinem Stop Shopping Choir gehen: Er greift Inszenierungen von evangelikalen TV-Predigern auf und predigt öffentlich gegen Klimawandel und Konsum. Oder bis zu Pussy Riot und ihrem »Punk-Gebet«. Aber natürlich denke ich auch an Schlingensief, Milo Rau, an das Zentrum für Politische Schönheit, das Peng! Kollektiv.


Dem liegt ein deutlich weiterer Theaterbegriff zugrunde, als man es gewohnt ist.

Ja, tatsächlich glaube ich, dass zum politischen Theater weit mehr gehört als das Inszenieren von Stücken mit politischen Inhalten auf Guckkastenbühnen. Die Welt ist komplex, es braucht viele unterschiedliche Formen, um sich mit ihr auseinanderzusetzen. Dabei meine ich aber nicht Beliebigkeit. Kunst muss diese Komplexität aushalten, aber nicht als Ausrede für Relativismus benutzen. Es geht um klare Positionierungen — aber mit dem Wissen, dass es sich dabei eher um Arbeitsthesen handelt. Gerade Theater ist sehr vom jeweiligen zeitlichen, aber auch geografischen Kontext abhängig.


Was meinen Sie damit?

Vielleicht würde man manches heute schon anders sagen, anders denken als vor einem halben Jahr. Und wohlfeile Forderungen nach mehr Demokratie von der Bühne herunter gesprochen wirken in Köln oder Berlin vielleicht altbacken, haben anderswo aber echte Sprengkraft. Ein paar Monate, ein paar Kilometer ändern manchmal künstlerische und politische Wirkungen drastisch.


In Ihrem Buch schreiben sie auch über Antanas Mockus, der 1995 zum Bürgermeister von Bogota gewählt wurde, in einer Stadt, die damals als einer der gefährlichsten Orte der Welt galt.

Seine Zeit als Bürgermeister ist legendär — und hat sehr theatrale Momente. Er erfand das Konzept der »cultura ciudadana«, der Bürgerkultur, einer Art ziviler Selbsterziehung, basierend auf Spiel, symbolischen Akten und inszenierten Situationen. Zum Beispiel schnitt er sich ein herzförmiges Loch in seine kugelsichere Weste, um seinen Glauben an Gewaltfreiheit zu demonstrieren, organisierte Performances an offenen Gräbern, um über Mord zu sprechen, und feuerte korrupte Verkehrs­polizist*innen und ersetzte sie durch über 400 Pantomime, wohl wissend, dass für Kolum­bianer*innen lächerlich gemacht zu werden, abschreckender war als jedes Bußgeld. Seine Strategie war frappierend erfolgreich.


Das passt zu Ihrer Forderung, die politische Kunst nicht im, sondern als öffentlichen Raum zu begreifen. Sie sprechen auch von einem Moment »radikaler Imagination«, der entstehen kann, wenn Konflikte verhandelt werden.

Theater kann mit seinen temporären Gemeinschaften besser als jede andere Kunstform Räume schaffen, in denen Konflikte sichtbar und offen ausgetragen werden können. Das steht durchaus im Widerspruch zur Vorstellung von Theater als »safe space« also geschütztem Raum der Selbstfindung. Aber ich glaube, dass es da nicht um ein Entweder-Oder geht, sondern wieder genau darum, was wird konkret an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit gebraucht. Wir brauchen Räume, in denen man sich seiner selbst vergewissern kann und Räume, in denen andere Meinungen und Haltungen ertragen werden müssen: »safe space« und »brave spaces«. Schließlich geht es auch darum, Utopien zu entwickeln, auszuprobieren, und daran zu arbeiten, wie zukünftige Gesellschaften aussehen könnten.


Grenzt das dann nicht immer auch an dem, was Sie als »institutional critique« bezeichnen — aber was meistens gerade von der Institution, die in die Kritik gerät, finanziert wird?

Es stimmt schon: Es ist teilweise schick geworden, dass Theaterhäuser Stücke auf die Bühne bringen, in denen etwa die mangelnde Diversität des Ensembles öffentlich verhandelt wird. Dabei alleine sollte es nicht bleiben. Es geht darum, dass man nicht einfach nur politisches Theater machen will — sondern dass man auch das eigene Leben, das eigene Arbeiten und die eigenen Institutionen als politisch begreift.

Florian Malzacher: »Gesellschafsspiele«, Alexander Verlag 2020, 164 Seiten, 15 Euro