Gefährliches Pflaster: »Kabul, City in the Wind«

»Kabul, City in the Wind«

Aboozar Amini dokumentiert alltägliches Leben im permanenten Ausnahme­zustand

Rote und grüne Fahnen flattern auf der verschneiten Hochebene vor fernen Bergen. Unter den Fahnen stehen Steine und Fotos mit Porträts. Bilder derjenigen, die hier begraben wurden. Im Juli 2016 sind sie in Kabul dem Anschlag auf eine Demonstration der Hazara-Minorität zum Opfer gefallen. Dazu singt ein Mann mit einer Laute von Liebesverlust und Abschied. Dann Schnitt auf eine Totale des Friedhofs. Zu hören ist nur noch das Knattern der Wimpel im Wind. So endet »Kabul, City in the Wind«. Der Anfang des Dokumentarfilms ist ähnlich musikalisch — mit Kindern, die mit Steinen und Schrott eine Percussion-Nummer improvisieren. Und mit einem anderen traurigen Lied über das geliebte Land, wobei der Sänger in einem leeren Bus sitzt und weder stimmfest noch nüchtern wirkt.

Die drei kleinen Jungen und der singende Busfahrer sind die Held*innen des Debütfilms von Aboozar Amini. Begegnen werden sie sich nicht, sie sind aber verbunden durch ihre Armut und ihre Heimat, die Hauptstadt Afghanistans. Während Busfahrer Abbas mit Ehefrau und Töchtern hinter der Mauer einer endlos scheinenden staubigen Straße in der Ebene lebt, liegt das ähnlich graue Wohnhaus der Jungen und ihrer Familie in den Bergen und bietet einen grandiosen Panoramablick.

Viel Action gibt es nicht, auch wenn ergreifende Dinge geschehen. Abbas hatte es einst mit einem Kredit und unternehmerischem Wagemut zu einem eigenen Bus gebracht. Als er ihn wieder verliert, betäubt er Schuldgefühle und Angst um die Zukunft mit Drogen. Und Afshin bekommt als ältester der drei Knaben wegen einer dringenden Reise seines Vaters ins ferne Kandahar die Verantwortung für seine beiden Brüder und die Mutter übertragen. Dieser Aufgabe kommt er mit so großem Ernst nach, dass sein herrischer Umgang mit dem kleineren Bruder oft wie eine Parodie patriarchaler Mechanismen wirkt. Doch es gibt auch kindliche Gespräche und spielerischen Übermut, wenn bei der Pflicht des Schneefegens vom Dach des Hauses ein Riesenschneeball ins Rollen kommt.

Immer wieder übertönt Geknatter von Hubschraubern die Geräuschkulisse im Tal. »Die bringen Granaten nach Kandahar, um gegen die Taliban zu kämpfen« sagt Afshin. Der Vater, der selbst beim erwähnten Attentat 2016 verletzt wurde, hat seinen Söhnen eingeschärft, belebte Orte zu meiden. Und wenn Busfahrer Abbas in ein Restaurant einkehrt, kommentieren die Männer dort neben dem Schneefall die letzten ISIS-Anschläge. So liegt die Gefahr immer über der Stadt.

Ins Stadtinnere geht Afshin mit seinem Bruder Benjamin aber doch, um dort in einem Krämerladen einen Beutel Zucker und Tee zu kaufen und ihn viele Treppenstufen hoch zu tragen. Abbas führt mit Ausdauer und nachbarschaftlicher Hilfe immer neue Reparaturen an seinem bunt bemalten Bus durch. Szenen, die Aminis Kamera mit Ruhe und Gelassenheit — oft von hinten — betrachtet. In der Montage hat er zwischen solch beobachtende Momente lange Nahsichten auf die verletzlichen Gesichter der Protagonisten gesetzt, deren Stimmen aus dem Off von Träumen oder realen Erlebnissen erzählen.

Gerahmt werden die Einzelporträts von Szenen aus dem Straßenalltag, die ein plastisches Tableau sozialen Miteinanders auslegen. Dass Frauen — wie überhaupt im ganzen Film — nur am Rande vorkommen, dürfte ihrer Rolle in der afghanischen Gesellschaft geschuldet sein. Offen thematisiert wird das nicht. Doch sehen wir Abbas’ Ehefrau nur einmal im Haus am Stickrahmen. Die Mutter der drei Jungen wird sogar nur über Bande sichtbar, wenn sie — bunte Tupfer im entfärbten Stadtbild — Wäsche neben dem Haus aufhängt. Eine markante Leerstelle in diesem starken Film, an dem der junge Regisseur Aboozar Amini drei Jahre lang gearbeitet hat. Amini war einst als Refugee in die Niederlande gekommen und kehrte nach dem Filmstudium in sein Herkunftsland zurück — auch um diesen Film drehen zu können.

(dto) NL 2018, R: Aboozar Amini, 88 Min. Start: 18.2.