Großer Spaß mit kleinen Teilen: Jessy Lanza

Stimmen hinter Filterwolken

Burial, Jessy Lanza, Logic1000

 

Wissen Sie, was mein neues Geheimrezept ist, um genügend Ruhe zum Musik hören aufzubringen? Puzzle und Antidepressiva. Während ich auf den zweiten Punkt gar nicht länger eingehen will (jedenfalls nicht so lapidar, wie ich es jetzt hier reingeworfen habe), war ich wirklich davon überrascht, wie kongenial der große Spaß mit den kleinen Teilen sein kann.

Es bietet dem überspannten Geist einen Ort der Kontemplation an — und während Lesen und Musik hören aus vielerlei Gründen auch anstrengend und überfordernd sein kann — Text-Text-Kollisionen —, gelingt es beim Bilderzusammensetzen ganz gut, sich verschiedener Facetten eines Tracks oder Liedes anzunehmen. Manchmal nebenbei, dann wieder konzentrierter.

Ob Burial puzzelt, werden wir womöglich nie herausfinden. Nicht etwa, weil das enigmatische Bass-Genie uns seine Freizeitgestaltung vorenthalten würde, ganz im Gegenteil: Womöglich wissen wir keinen Deut mehr über den (?) Engländer (??) als bloß, dass er sowohl Spiele von Hideo Koshima (Metal Gear-Reihe) als auch die Dark Souls-Inkarnationen versessen zockt — beide Reihen sind in der Gamer-Szene bekannt als Spiele für den depressiven Rückzug.

Dazwischen beschäftigt er sich anscheinend mit dem musikalischen Katalog der 1990er und 2000er. So finden wir auch auf seiner neuen Single »Chemz«, die seit dem 22. Dezember zum Pre-Order bereitsteht, Samples der R’n’B-Künstler*innen Ne-Yo und Allure. Ein runder Monat für Burial, der nebenbei noch eine Kollab-Platte mit Four Tet und Radioheads Thom Yorke veröffentlicht hat, um deren limitierte Auflage (300 Stück) sich die Leute im Londoner Phonica-Plattenladen trotz Covid-Restriktionen gerangelt haben sollen. Außerdem erschien bei Hyperdub eine Kompilation seiner Singles aus den letzten acht Jahren.

Back to »Chemz«: Was als Reminiszenz an die Meisterwerk-LP »Untrue« aus dem Jahr 2005 beginnt, nimmt alsbald eine Wendung Richtung Trance. Die (Fake-)M1-Workstation gewinnt bald die Überhand und erinnert an Comic-Print-Hemden, weiße Hosen und Mini-Knicklicht-Fischköder, die lässig-lasziv bei offenem Mund mit spitzen Zungen hin- und hergeschoben werden. Anders als noch bei »Untrue« werden hier keine gedämpften Drucklufthörner, wie Geister vergangener Raves hupen, sondern bloß ein Break-Clusterfuck losgetreten, der die ehedem depressive Stimmung Burials in bloße Zerstörung übersetzt.

Wer dies erfahren will, der muss bis April warten, wenn die Platte erscheint. Allerdings sind alle Platten schon über die Plattentheke gegangen, »Chemz« ist vor Erscheinen ausverkauft. Bei Hyperdub wird aber in der Regel nachgepresst.  Man setzt nicht auf das Prinzip künstliche Verknappung, welches in den letzten Jahren zumindest gefühlt immer mehr Überhand genommen hat.

Zumindest nicht immer, denn der zweite Tipp aus den Reihen des Labels wird nur als Kassette, nur bei Bandcamp und nur im begrenzten Maße angeboten. Trotzdem lohnt es sich einen Blick auf Jessy Lanzas »24/7« zu werfen. Hinter jenem »all day, all week«-Chiffre verbergen sich in diesem Falle sieben hinreißende Remixes zum letztjährigen Album der kanadischen Künstlerin. »All The Time« war eine LP, die mit ihren nahbaren Geschichten im Krisenjahr durchaus seelischen Beistand leisten konnte. »Ice Creamy« handelt etwa von ihrer »Liebe« zum Schmerzmittel Percocet, Sucht möchte man nicht sagen. Dennoch entwickelte sie eine Abhängigkeit und widmet dieses Lied sowohl dem Medikament selbst als auch den Zuständen (Schlaflosigkeit und Angst), die es heilen sollte.

In der Version von Visible Cloaks wird aus dem Future-R’n’B eine flashige Pop-Nummer, die auch auf dem Label PC Music einen Platz finden würde. Die Stimme verschwindet noch weiter hinter Filterwolken, der Beat wird zum Effekt und dafür fluten Synthesizer-Wände auf und ab. Kate NV macht aus »Baby Love«, was sie am besten kann: ein kleines Märchen in Popform gegossen. Irgendwo zwischen Janet Jackson und Yellow Magic Orchestra verbirgt sich viel 80er-Schmuserei. Der New Yorker DJ Swisha evakuiert das Album-Titellied in den Jungle — mit rollenden Breaks und trotzdem viel Herz.

Wer im Übrigen Jessy Lanza liket, der darf auch gerne bei der Australierin Logic1000 vorbeischauen. Die in Berlin ansässige Künstlerin produziert zwar vornehmlich auf den Dancefloor ausgerichtete Musik — wie es um die Tanzflächen derzeit steht, werden wir wohl nicht nochmal aufrollen müssen —, doch auch abseits davon können die Tracks für Endorphineinschüsse sorgen.

Der Viertracker orientiert sich diesmal an Old-School-House-Feelz. Vocal-heavy mit Diva-Charme und viel Geschäker. Da sie auf ihrem Debüt auf dem kleinen Sumac-Label noch eher mit Bass-Variationen und Underground-Sounds gearbeitet hat, fragt man sich, woher der Sinneswandel kommt. Womöglich liegt es am neuen Label: Because Music ist nicht nur ein Big Player, sondern auch ein französisches Label. Dass Franzosen bis heute eine gewisse Vorliebe für cheesy (Garage-)House hegen, ist wohl ein offenes Geheimnis. Das tut der Qualität auch dieser Veröffentlichung keinen Abbruch. Sie macht viel Spaß und zaubert ein Grinsen.

Willkommener Nebeneffekt: Das therapeutische Puzzeln wird mit so einem Soundtrack zum beschwingten Mini-Dance-Event am heimischen Wohnzimmertisch, und der Bitterstoff-Tee zur Gallenwegsspülung schmeckt fast wie ein Gin Tonic!

Tonträger: Burial, »Chemz, (Hyperdub / Digitale Pre-Order)

Jessy Lanza, »24 / 7, (Hyperdub / bereits erschienen)

Logic1000, »You’ve Got the Whole Night to Go, (Because Music / bereits erschienen)