Befremdlich, aber immerhin das: Theater im Stream , Foto: Krafft Angerer

Vor laufender Kamera

Ist das noch Theater oder schon Film? Über den Blick durch die Kamera auf die Bühne

»Traut man sich jetzt oder erklärt man das Theater ohne Live-Moment für tot?« Vor dieser Entscheidung sah sich Rafael Sanchez, als der zweite Lockdown in die Verlängerung ging und eine Premiere vor Publikum für seine Inszenierung von »Früchte des Zorns« im Dezember am Schauspiel Köln undenkbar wurde. Regisseur und Besetzung einigten sich auf einen Live-Stream und gingen das Wagnis ein. »Live« war immer noch im Titel, doch die Kopräsenz fand nun abstrakt vor den vernetzten Bildschirmen statt. An die Umsetzung ging der Hausregisseur erstmal ganz unbedarft heran. »Es lohnt sich, die Hosen runter zu lassen, auch wenn’s peinlich wird«, sagt er lachend.

Viel Häme hatten deutsche Theater für ihre digitalen Gehversuche im ersten Lockdown geerntet. »Hektisch gebastelte Streams« urteilte die Süddeutsche. Doch im zweiten Lockdown vervielfältigen sich nun die Ästhetiken und Formate. Und auch die Streams werden ansehnlicher, kunstvoller und eignen sich filmische Mittel an. Aber bleibt das Theater als Stream denn noch Theater? Und wo verlaufen die Grenzen zum Film?

»Mir war wichtig zu zeigen, dass wir hier keinen Tatort oder Hollywoodfilm machen«, sagt Sanchez. Die Scheinwerfer, die Mikroports im Gesicht der Schauspieler, die Tribühnenbretter — sie sollten keinen Zweifel lassen: Wir befinden uns im Theater. Peinlich sei das aber dann nicht geworden. Sanchez hatte das Glück, bereits zuvor mit der Fernsehregisseurin und Kamerafrau Nazgol Emami zusammengearbeitet zu haben. Sie entwickelte innerhalb von drei Wochen ein Konzept mit sechs Kameras. Beide konnten aus einem Fundus alter Ideen schöpfen. »Manchmal ist man dann zu leise, manchmal ist man zu laut und es ruckelt eben. Man hätte wohl noch schönere Bilder finden können, aber man ist ja eigentlich da, um eine Bühne zu zeigen und eben, dass man Theater macht.« Bewusst auf die Visualität und Räumlichkeit des Theaters zu setzen, war in diesem Fall auch eine rechtliche Frage. Denn nur ein Live-Stream hätte den Rahmen der Bühnenrechte nicht gesprengt. Für einen Film hätten andere Rechte erworben werden müssen.

Eine Bühne sucht man in der digitalen Version des Stücks »Schwarzwasser« von Stefan Bachmann vergeblich. In Nahaufnahmen sehen wir die Spieler*innen in Industriehallen und Lastenfahrstühlen. Sie könnten das Karlswerk sein, auf dessen Gelände die Spielstätte »Depot« steht. »Der Film« ist dem Stücknamen als Untertitel beigeordnet. Doch das sei bloße Ironie, erklärt der gegenwärtige Intendant dem Sender WDR 5 im Interview. Die filmische Inszenierung der Jelineckschen Textfläche über den zeitgenössischen Rechtspopulismus sei weder Film noch Theater. Etwas Drittes also?

»Die Art der Darstellung macht immer noch einen Unterschied.« Zu diesem Ergebnis kommt Sascha Förster, wenn er auf seinem privaten Sofa liegt und im Anschluss an eine Netflixserie einen Theaterstream sieht. »Im Theater spielt man ja immer noch auf Distanz und auch wenn Schauspieler*in­nen, das im Stream runter fahren, spielen sie immer noch viel expressiver als im Film«, erklärt der Theaterwissenschaftler der Uni Köln, der in seinen Lehrveranstaltungen Theaterfestivals untersucht.

Auch in »Schwarzwasser« und anderen Theaterstreams ist dieses ausdrucksstarke Spiel zu beobachten. »Nervtötend« findet die Wochenzeitung Der Freitag den »merkwürdigen Theatersprech«, etwa im »Zauberberg« des Deutschen Theaters. Das sei nur durchzuhalten, wenn man sehr viel Theater-Erinnerung aktiviere. »Wir sind in unseren Sehgewohnheiten verdorben, unvermögend und überzuckert, weil wir etwas anderes erwarten, wie eine Geschichte erzählt wird, wie die Menschen aussehen«, deutet Rafael Sanchez die verstörende Wirkung von Theater vor der Kamera. Der Mainstream-Film ist vom Naturalismus geprägt, setzt auf Einfühlung und stellt Normkörper vor die Kamera — ganz anders als das zeitgenössische Theater. Auch Sascha Förster räumt ein, dass es etwas Befremdliches habe, das Theaterschauspiel vor der Kamera zu sehen. Doch: »Ich finde die Befremdlichkeit theatraler Mittel vor der Kamera sehr produktiv.« Allerdings ist die Kamera für ihn primär die Verlängerung seiner Selbst, als Zuschauer in der Pandemie. Wie ein stellvertretendes Auge oder ein Blick durchs Schlüsselloch auf das Bühnenspiel, das aber stets Theater bleibt. Sanchez geht weiter: Zwischen Film und Theater könne gar ein neues Genre, eben etwas Drittes, entstehen, das die Pandemie überdauert: »Eine Zwischenwelt zwischen Theater und Film.«

In dieser Zwischenwelt könnten unterschiedliche Formen Platz finden. Sanchez nennt den Kinofilm »Enfant Terrible« von Oskar Roehler, der den Regisseur Rainer Werner Fassbinder vor Theaterkulissen porträtiert. Aber auch interaktive Netztheaterformen stellt er sich vor. Ob sich das befremdliche Theaterspiel vor der Kamera als eine postpandemische Form fest am Kunsthimmel verankert oder ob es nicht doch nur ein ewiger Platzhalter bleibt, der auch nur als solches zur ertragen ist, wird sich erst zeigen, wenn die Türen der Spielstätten wieder öffnen. Die Notwendigkeit digitale Theaterformen zu erforschen, wird erhalten bleiben.