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Schaudern, den ganzen Abend

Splatter-Theater: Jahrzehntelang lehrte das Grand Guignol in Paris das Gruseln

15 bewusstlose Zuschauer, dazu die ganze Gasse voll mit Hyperventilierenden: Ein Rekord im Théâtre du Grand Guignol. Aufgestellt wurde er bei einer Szene, die eine besonders realitätsgetreue Bluttransfusion zeigte. Der Moment, als eine Schauspielerin, die gerade ihre Augen verloren hatte, mit scheußlichen roten Löchern im Schädel wieder auf der Bühne erschien, kam aber auch gut.

Seit 1897 lehrte das Horrorkabinett im Pariser Vergnügungsviertel Pigalle seinem Publikum das Gruseln. Aus der ganzen Welt strömte man in das gerade einmal 293 Sitzplätze umfassende Theater. Es lag am Ende einer kopfsteingepflasterten Straße, in einer Kapelle mit neogotischen Bögen und zwei riesigen geschnitzten Engeln, die milde von der Decke lächelten. Dass sein Gründer Oscar Métènier eigentlich nur ein Kasperletheater für Erwachsene erfinden wollte, ist ein Gerücht, das sich bis heute tapfer hält: Schon am Abend der Eröffnung gab es einen Skandal, weil Métènier die Rolle der Prostituierten in »Mademoiselle Fifi« mit einer realen Sexarbeiterin besetzte. Eine frühe »Expertin des Alltags«, wie sie das Dokumentartheater heute liebt.

Thriller wie Hitchcocks »Psycho«, der US-Splatterfilm und Gruselstreifen der britischen Hammer Studios bedienten sich an den Tricks, die das Theater entwickelt hatte. Bis zu neun Farbtöne von Blut rührten die Mitarbeiter*innen hier an, die regelmäßig über die Bühne rollenden Augen stammten von Tieren und wurden mit einer glibberigen Aspikschicht überzogen, aus Schläuchen und blutgetränkten Schwämmen formte man die Organe, die hier allabendlich ausgeweidet wurden. Nie zuvor war Gewalt so detailgetreu im Theater inszeniert worden.

»Zu allen Zeiten hat Angst die Menschen geplagt«, schrieb der Historiker Albert Sorel über das Grand Guignol. »Und das einzige Mittel, das sie gefunden haben, um sich davon abzulenken, war, sich die Gegenstände ihres Entsetzens auf dem Theater vorzuführen.« Doch die Vorstellung wurde überrannt von der Wirklichkeit: Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte kaum mehr jemand den Horror sehen. 1962 schloss das Theater endgültig seine Türen.