Das Ende ist nah – Teil 3

 

Das Motiv eines Unglücks, das sich seinen Weg bahnt

Bassam Ghazi, Schauspiel Köln

 

Es gab eine Zeit, da habe ich mich entschieden, kreativ mit Menschen zusammen zu arbeiten. Gemeinsam in einem Raum mit ihnen zu sein und künstlerische Ideen zu entwickeln. Jetzt zeigen Klebestreifen auf dem Boden an, wie nah wir uns kommen dürfen: Markierungen des Abstandes, eine Choreografie ausweichender Schritte. So war das bei den Proben zu »Jugend ohne Gott«, einem Stück, an dem wir mit dem Import-Export-Kollektiv im letzten Sommer gearbeitet haben. Zwölf Schauspieler*innen standen dort auf der Bühne im Schauspiel Köln. Sie alle auf die Bühne zu bekommen, ohne dass sie sich beim Auf- und Abgang zu nahe treten, war schon eine Herausforderung. Wir haben Stunden darüber gegrübelt, Wege entwickelt und wieder verworfen, und am Ende ein Bild gefunden, das passte: Horváth zeigt eine kalte, rohe Jugend, die von der Bedrohung des herannahenden Zweiten Weltkrieges geprägt ist. Das Militärische haben wir für die Insze­nierung genutzt. Das Gefangensein im System als ein Gefangensein in Vierecken: ein paar wenige Quadratmeter Bewegungsfreiheit.


Kurz vor der Premiere im Oktober stand dann plötzlich alles still. Im Kollektiv gab es einen Corona-Fall, einer von uns war positiv getestet worden. Von einem Tag auf den anderen schien alles über den Haufen geworfen. Wir haben uns zum Testen beim Arzt getroffen, die Anspannung, die damals im Wartezimmer in der Luft lag, ist schwer in Worte zu fassen. Denn uns war klar: Wenn nicht nur einer, sondern mehrere sich angesteckt habe, dann müssen wir das Stück absagen. Die Bedrohung, die da näher rückte, fühlte sich ein bisschen an, wie in Horváths Stück. Auch in »Jugend ohne Gott« taucht immer wieder das Motiv eines Unglücks auf, das sich seinen Weg bahnt.


Dennoch waren wir, die noch arbeiten konnten, in einer sehr privilegierten Situation. Ein paar Mal haben wir es mit Online-Proben versucht, um irgendwie noch zur Premiere durchzukommen, aber das hat nicht gut geklappt. Mal war die Internetverbindung so schlecht, dass man die Mimik seines Gegenübers nicht erkennen konnte, mal lief das Bild zeitver­zögert und brachte uns aus dem Konzept. Letzten Endes haben wir in der Gruppe entschieden, dass das, was wir zur Premiere präsentieren, nicht fertig werden wird. Auf eine gewisse Weise war dieses Hinnehmen, die Akzeptanz der Umstände, eine Erleichterung für uns alle. Vielleicht werden wir das Stück, wenn die Infektionslage sich verbessert hat, noch einmal zeigen. Vielleicht sogar draußen, im Jugendpark.


Überhaupt merke ich, dass ich jetzt viel stärker außerhalb der Theaterräume denke. Viele Ideen zu Inszenierungen verlagern sich an die frische Luft. Ich war schon immer überzeugt, dass Theater auch Menschen jenseits des Abo-Publikums erreichen muss. Aber mit den Einschränkungen sind meine Ideen konkreter geworden. Gerade gründen wir am Schauspiel Köln eine neue Gruppe: »YaBasta! — Aktions­theater«, ein Zusammenschluss von Jugendlichen, die künstlerische Interventionen zu den Themen Race, Class und Gender machen, kurze Unterbrechungen unseres alltäglichen Trotts im öffentlichen Raum. Als Theaterpädagoge ist es schwer geworden, die Jugendlichen zu erreichen: Nach einem Tag im Online-Unterricht sind sie nur mäßig motiviert, noch einen Theater-Workshop via Zoom zu machen.


Eine Zeit lang hat mich das ziemlich mitgenommen — diese Vereinzelung. Meine Arbeit lebt von Nähe und Austausch. Aber dann ist da dieses Zucken des Körpers, wenn man sich wieder erinnert und einen Schritt zurück geht, die Hand zurück zieht, die man gerade schütteln wollte. Ich hab gezweifelt, in dunklen Moment darüber, ob ich nicht den Beruf wechsle und Gärtner werde. Aber jetzt habe ich akzeptiert, dass das gerade so sein muss — und so geht unsere Suche nach Kompromissen und digitalen Formaten weiter. Vielleicht werden uns die Klebestreifen auf dem Boden noch eine Weile in die Schranken weisen. Das größte Kompliment aber war für mich, als ein Zuschauer nach der Premiere zu »Jugend ohne Gott« sagte: »Ich habe die ganze Zeit nicht an Corona gedacht.«


Protokoll: Philippa Schindler

Bassam Ghazi
geboren 1974 in Beirut, ist Theaterpädagoge, Regisseur und künstleri­scher Leiter des Import Export Kollektivs am Schauspiel Köln. Er ist Kurator für das Kinder- und Jugend Theaterfestival » Augenblick mal! 2021 »« und Kuratoriumsmitglied des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der BRD.

 

 

Wir sitzen eh viel zu Hause

Corona war für die Literaturszene keine Zäsur, aber die Pandemie hat Fragen zur digitalen Zukunft aufgeworfen

»Wir Literaturleute sitzen eh viel zu Hause«, sagt Dincer Gücyeter und lacht. Er betreibt in Nettetal den Verlag Elif und veranstaltet in Köln das Lyrikfestival »Satelliten«, und diese Arbeit ging auch während der Corona-Pandemie weiter — bei geringeren Einnahmen. »Wir haben etwa ein Drittel unseres Umsatzes aus dem Buchhandel verloren«, sagt Gücyeter, »aber das haben wir durch Direktbestellungen beim Verlag ausgeglichen.«


Solche Geschichten hört man oft im Literaturbetrieb. Die Corona-Pandemie war auch hier ein Einschnitt, aber nicht so dramatisch wie in anderen Kulturbereichen. Die Landes­regierung legte einen Stipendienprogramm auf, viele Schreib­residenzen sind ins nächste Jahr verlegt worden, andere Förderungen wurden umgewidmet. Anstelle einer Literatur-Performance war dann halt ein Text für die Performance der förderungswürdige Gegenstand.


Hinzu kommt: Autor*innen sind finanzielle Durststrecken gewohnt. »2020 wäre finanziell sowieso ein schwie­­rigeres Jahr geworden«, sagt Gunter Geltinger. Der Kölner Autor und Literaturdozent hat 2019 seinen bislang letzten Roman »Benzin« veröffentlicht. Die Lesetour dazu hatte er gerade abgeschlossen, als die Pandemie einsetzte. Romane, die im Früh­­jahr 2020 erschienen sind, seien jedoch fast alle untergegangen, sagt Geltinger. Die Pandemie monopolisierte die Aufmerksamkeit. Geltinger hat den Großteil der Zeit im Haus seiner Eltern in Mecklenburg-Vorpommern verbracht und an neuen Texten gearbeitet, etwa an einem Essay für die Literaturzeitschrift die horen über Viren als Metapher für literarische Prozesse.


Viel geändert hat sich dagegen im Leben von Anke M. Leitzgen aus Lohmar. Schuld daran ist die Digita­lisierung. Leitzgen ist Bildungsjournalistin und schreibt Sachbücher für Kinder: über Kinderrechte, Stadtplanung oder gefährliche Dinge, die jedes Kind gemacht haben sollte. »Das war aus der Not geboren«, sagt sie. »Ich wollte mich nicht mit den Büchern zufriedengeben, mit denen meine Kinder in der Schule arbeiten mussten.« Nach den Sachbüchern waren kindgereche digitale Werkzeuge der nächste Schritt. Zu Beginn der Corona-Pandemie veröffentlichte Leitzgen ihre dritte App: »#digiclass«.


#digiclass richtet sich an Grundschulen. »Die besondere Qualität der schulischen Bildung liegt in den Beziehungen, dem Gespräch und der Diskussion«, sagt Leitzgen. »Wie kann man dies ins Digitale übertragen?« Die Leh­rer*in­nen können mit #digiclass kurze Videos oder Fotos erstellen, in denen sie die Aufgabenstellung erklären, die Schüler*innen können ihre Ergebnisse per Foto, Video, Text, Zeichnungen und Sprachnachricht dokumentieren. Die App ist dann das virtuelle Klassenzimmer, in dem die Ergebnisse betrachtet und besprochen werden können.


Aber die Kinderbuchautorin nutzt die App auch für Workshops, mit denen in der Grundschule Literatur vermittelt wird. Für Autor*innen von Kinderliteratur sind solche Veranstaltungen eine wichtige Einnahmequelle, die seit Monaten weggebrochen sind. »Es reicht jedoch nicht, als Alternative Lesungen auf YouTube einzustellen«, sagt Leitzgen. »Der echte Austausch mit den Kindern darf nicht verloren gehen.« In der App bekommen die Schüler*innen kreative Aufgaben gestellt, etwa Szenen nach­zuspielen oder eigene Dialoge zu erfinden. Die Autor*innen beantworten dann Fragen und geben Feedback. »Als Lehrkraft lernt man die Kinder dabei nochmal ganz anders kennen«, sagt Leitzgen. Für sie stellt sich nicht die Frage, ob die digitale Vermittlung von Schulinhalten und Literatur nach der Pandemie weitergeht, sondern wie. »Die Digitalisierung sollte dazu genutzt werden, die Beteiligung der Kinder und ihre Lernbeziehungen zu intensivieren und Lernen für sie relevant zu machen.«


Was Kindern gut gefällt, muss bei Erwachsenen nicht unbe­dingt auf Zustimmung stoßen. Verleger Dincer Gücyeter hat in der Pandemie digitale Lesungen veranstaltet und kurze Clips zu Gedichten geschnitten. »Das hat kaum jemand ange­schaut«, sagt er. Die Kurt-Wolff-Stiftung der unabhängigen Verlage erarbeitet mit dem Haus der Poesie gerade Konzepte für digitale Literaturveranstaltungen: »Aber da werden wir frühestens im Sommer erste Ergebnisse sehen.« Für die Zukunft hofft Gücyeter wieder auf die persönlichen Begegnungen: auf der Buchmesse Pommes essen, nach der Lesung Bier trinken. Gunter Geltinger sieht in der Corona-Krise jedoch die Chance auf Veränderungen. »Die Periode der gesellschaftlichen Alternativlosigkeit ist vorbei«, sagt er. Er selbst reagiert darauf mit der Gelassenheit des Schriftstellers: Er arbeitet an einem neuen Roman.


Text: Christian Werthschulte