Schwer zu durchblickende Komplexität

Enorm

Sophie Letourneurs »Farce« reflektiert die ­Komplikationen einer Schwangerschaft

»Enorm« wurde in Frankreich mit einem nationalen Filmpreis prämiert und von der führenden Filmzeitschrift unter die weltbesten zehn Filme des Jahres 2020 gewählt. Zugleich ist die Regisseurin und Ko-Autorin Sophie Letourneur von feministischer Seite scharf kritisiert worden, obwohl sie für ihren vierten Spielfilm feministische Absichten reklamiert. Dabei dürften Auszeichnungen wie Attacken letzten Endes denselben Grund haben: dass dieser irritierende Film sich nämlich jeder Festlegung widersetzt.

Die spröde Farce baut auf einer Umkehrung stereotyper Geschlech­terrollen auf, die früh im Ausruf des Protagonisten gipfelt: »Hinter jeder großen Frau steht ein Mann!« Fred (Jonathan Cohen) tut als Tourmanager, Sekretär und Kofferträger offenbar alles, um die Karriere seiner Ehefrau Claire (Marina Foïs) zu fördern. Und sobald die erfolgreiche Pianistin abgespannt wirkt, bietet er dienstfertig Cunnilingus an.

Zwar ist der Kerl eine taktlose Nervensäge, aber womöglich trägt sogar seine Dampfplauderei zu Claires Entlastung bei, da sie sich Smalltalk gerne entzieht. Allerdings verkündet sie bei einem Stehempfang, für Kinder keine Zeit zu haben — woraufhin Fred bald einen dringenden Kinderwunsch verspürt, nachdem er zufällig Zeuge einer Sturzgeburt geworden ist. Also manipuliert er Claires Antibabypillen, damit sie schwanger wird.

Indem sie eine Juristin mit sichtlicher Abscheu reagieren lässt, stellt Letourneur klar, wie Freds Tat zu bewerten ist. Allerdings fällt der folgende Konflikt lauwarm aus, was der Filmemacherin ebenso zum Vorwurf gemacht wurde wie der Umstand, dass Claire sich nicht nennenswert weiterentwickelt. Umso deutlicher wird aber, dass wir es mit zwei Kunstfiguren zu tun haben, die mitnichten zur Identifikation einladen.

So sind wir zur eigenen Positionsbestimmung gegenüber den Themen des Films gezwungen — zumal seine Form die reizvolle Unbestimmtheit unterstreicht: Eine monströse Bauchprothese steht in starkem Kontrast zum Realismus von Originalschauplätzen und von Laien, die sich in Nebenrollen selbst spielen, wie das altertümelnde 4:3-Format und Lochblenden.

Letourneur begann mit der Stoffentwicklung, als sie zum zweiten Mal schwanger war. Nach eigenen Angaben wollte sie das Thema Schwangerschaft »entweihen«, da die heitere Reibungslosigkeit, mit der Geburten im Unterhaltungskino ablaufen, es Schwangeren erschwere, in der Wirklichkeit mit Komplikationen umzugehen. Das Ergebnis ist so burlesk wie unsentimental — und in seiner Zwiespältigkeit einzigartig.

(Énorme) F 2020, R: Sophie Letourneur, D: Jonathan Cohen, Marïna Fois, Jacqueline Kakou, 101 Min., verfügbar auf Amazon