Fassungslos aber unerschrocken: Carmen Aristegui

»Silence Radio«

Juliana Fanjul würdigt die Arbeit der mexikanischen Journalistin Carmen Aristegui

»Wir lieben dich!« So schallt es aus der Menge. Wo Carmen Aristegui erscheint, wird sie umarmt, geduldig posiert sie für Selfies. In Mexiko ist sie eine Institution. Auch Filmemacherin Juliana Fanjul macht kein Hehl aus ihrer Bewunderung. Schon als Teenager hat sie Aristegui im mexikanischen Radio gehört. Für sie ist die Journalistin eine der letzten unabhängigen Stimmen dort. Als auch diese verstummen soll, nimmt Fanjul das zum Anlass für ihren Dokumentarfilm.

Carmen Aristegui veröffentlicht seit Jahrzehnten investigative Reportagen auf dem reichweitenstarken Radiosender MVS. 2014 decken sie und ihr Team auf, wie der damalige Präsident Enrique Peña Nieto sich von einem Konzern eine Luxusvilla errichten lässt — und diesem im Gegenzug einen Staatsauftrag für eine Schnellzugstrecke zuschanzt. Nach der Ausstrahlung setzt der Sender Aristegui vor die Tür und verklagt sie. Trotz Demonstrationen und einer Petition mit 200.000 Unterschriften, die ihre Rückkehr und ein Ende der Zensur fordern, bleibt MVS hart. Der Film zeigt, wie die Journalistin daraufhin samt Investigativ-Team den eigenen Internetkanal »Aristegui Noticias« gründet, zum Teil finanziert mit Erspartem.

Überschattet werden die harmlos anmutenden Szenen vom Aufbau der Redaktion, den Konferenzen und dem Arbeitsalltag von beunruhigenden Signalen. Zeichen der Überwachung und Manipulation. Die Journalist*innen werden beschattet, ihre Smartphones abgehört. Die Filmemacherin stellt fest, dass ihre Wohnungsschlösser manipuliert worden sind. Sie wird von einem Wagen verfolgt, zwei Männer brechen in die Redaktionsräume ein und stehlen ein Laptop. Als sie die Aufnahmen der Überwachungskamera betrachtet, gerät selbst die sonst so unerschrockene Carmen Aristegui aus der Fassung.

So persönlich die Herangehensweise der Filmemacherin Juliana Fanjul ist, so wohltuend zurückgenommen und nüchtern sind ihre Bilder. Die Kamera wahrt Distanz, zeigt die Journalist*innen bei der Arbeit und spiegelt so deren Professionalität wider. Die Privatperson Carmen Aristegui gibt nichts preis, wohl auch, um Angehörige und Freunde zu schützen. Das verstärkt den Eindruck, dass um die Sache geht.

Im Kontrast dazu rücken die mit Zitaten von Octavio Paz gespickten, poetischen Off-Kommentare von Juliana Fanjul dem Zuschauer sehr nah, vermitteln ihre Sicht auf Mexiko, stellen das Geschehen in einen breiteren Kontext und ordnen es politisch ein.

Fanjul schildert einen Staat, der seit 1929 fast ausschließlich von Politiker*innen der PRI geführt wird, die sich mit den Drogenkartellen mindestens arrangiert hat. Inmitten der Verflechtungen von Politik und organisiertem Verbrechen wird das Land wirtschaftlich ausgeblutet und die Bürger ihrer Rechte beraubt. Immer wieder geraten sie in die Schusslinie, wie jene 43 Studenten, die 2014 in Iguala entführt und ermordet worden sind. Bis heute sind die Umstände der Tat nicht geklärt.

Ein Lieblingsziel bleibt die Presse: Mehr als 100 Journa­list*innen sind seit 2000 in Mexiko ermordet worden. Einer von ihnen war Javier Valdez Caldenas. Der AFP-Korrespondent und Gründer der Wochenzeitung »Ríodoce« wurde 2017 auf offener Straße erschossen — mit 13 Kugeln. Auf der Kundgebung anlässlich seiner Ermordung fordert Carmen Aristegui, den Staat zur Verantwortung zu ziehen, weil solche Morde nicht aufgeklärt werden. Dass Aristeguis Mut und Engagement nie pathetisch wirken, ist Filemacherin Juliana Fanjul hoch anzurechnen. In »Silence Radio« verzichtet sie auch weitestgehend auf die üblichen Schreckensbilder der von den Kartellen gefolterten und ermordeten Menschen. Der Film trägt damit nicht weiter zu Mexikos Stereotypisierung als sogenannter Narco-Staat bei. Stattdessen liefert er ein ausgewogeneres Bild und wird zum Plädoyer für Fakten statt Fake-News — und für Journalismus als echte vierte Gewalt.

(dto) CH/MEX 2019, R: Juliana Fanjul, 78 Min.