Begehrter Platz: Kirchenaustrittsstelle im Amtsgericht

Legal, illegal, Kardinal

Nach der Missbrauchsaffäre bricht das Kölner Erzbistum zusammen

Eine Gemeinde im Kölner Norden, weit weg vom Dom. Samstagabendmesse vor dem ersten Fastensonntag. Nach der Lesung aus dem Markus-Evangelium folgt statt der Predigt eine Umbaupause. Ein Beamer wird angeschaltet, dann erscheint Rainer Maria Kardinal Woelki auf der Leinwand. Sein Hirtenbrief zur Fastenzeit wird als Video gezeigt. Er habe immer wieder Fehler gemacht, »auch im Rahmen der Aufarbeitung der Missbrauchsvergehen sowie der damit verbundenen Krisenkommunikation«, sagt er. »Da habe ich auch Schuld auf mich geladen, das tut mir von ­Herzen leid.« Woelki versichert, es gehe ihm »um konsequente Aufarbeitung und dabei zuerst

und zuletzt darum, dass das Leid der Betroffenen das Handeln bestimmt.« Ein Brummton liegt unter der Tonspur, verstärkt durch den Hall im Kirchenschiff, es ist eine seltsame Zäsur der Messe. Dann werden Beamer und Leinwand abgebaut. Keine Kommentare, kein Übergang. Die Fürbitten werden vorgetragen. Nach der Messe liegt Woelkis Hirtenbrief, der immer auch als Broschüre ausgegeben wird, noch nicht am Ausgang. Es fragt auch niemand danach.

Die Gläubigen verstehen ihre Führung nicht mehr. Fassungslos sehen sie mit an, wie nahezu im Wochentakt neue Vertuschungsfälle enthüllt werden, aber kein Amtsträger Schuld bekennt oder gar zurücktritt. Viele aber wollen nicht mehr zusehen. Sie kehren der Kirche den Rücken. Seit Kardinal Woelki im vergangenen Herbst erklärte, ein Missbrauchsgutachten nicht zu veröffentlichen, treten in Köln so viele Menschen aus der Kirche aus wie nie zuvor. Von anfangs 600 bis 650 Terminen pro Monat stockte das Kölner Amtsgericht erst auf 1000, dann auf 1500 Termine auf. Doch auch das erhöhte Angebot kann die Nachfrage nicht bewältigen; Richter Maurits Steinebach verweist deshalb auf die Möglichkeit eines schriftlichen Austritts mit notariell beglaubigter Unterschrift. Schon immer gab es Austrittswellen, doch diesmal verliert die Kirche nicht nur Menschen, deren Mitgliedschaft schon lange bloß noch auf dem Papier besteht. Sondern solche, die den Kern der Gemeinden ausmachen.

Norbert Bauer, Leiter der Karl-Rahner-Akademie, einer unabhängigen katholischen Bildungseinrichtung, spricht von einer »Kernschmelze der Kirche«. »Es sind Menschen, die noch gläubig sind, die aber ihren Glauben verlören, wenn sie nicht austreten«, so Bauer. Eine von ihnen ist Doris Bauer, die den gleichen Nachnamen trägt, aber nicht verwandt ist. Sie war Lektorin, Kantorin, Kommunionhelferin in St. Agnes. »Ich habe das alles gern getan, obwohl ich mit vielem nicht einverstanden war«, sagt sie. Schon vor 25 Jahren schloss Doris Bauer sich einem Kirchenvolksbegehren an, setzte sich gegen Pflichtzölibat und für Geschlechtergerechtigkeit ein. Doch dann wurde 2018 die sogenannte MHG-Studie veröffentlicht, die erstmals den sexuellen Missbrauch von Kindern durch Kleriker in deutschen Bistümern untersuchte — und kein Bischof zog Konsequenzen. »Ich konnte es nicht mehr verantworten, vorne in der Kirche zu stehen und dieses System mitzutragen«, sagt Doris Bauer. Sie kennt viele Menschen in ihrem Umfeld, die ebenfalls mit dieser Entscheidung ringen. Trotzdem besucht Bauer weiterhin Gottesdienste in ihrer Gemeinde. »Die christliche Botschaft ist mir weiter wichtig. Ich bin immer noch aktiver Teil der christlichen Gemeinschaft.«

Er könne die Menschen verstehen, die austreten, sagt Pfarrer Franz Meurer aus Höhenberg-Vingst. Meurer ist maßgeblich am »Pastoralen Zukunftsweg« des Erzbistums beteiligt, einem Forum für alle Katholiken, mit Ziel, »die Kirche von morgen mitzugestalten« und eine »Antwort auf die Herausforderungen der Zeit« zu finden. Meurer ist zuständig für »Geistlichen Kulturwandel und Vertrauensarbeit«. Als es losging, hieß es, das Erzbistum könne nicht einfach weitermachen wie bisher — das war 2018. Jetzt, nachdem Woelki viele Katholiken vor den Kopf gestoßen hat, ist der Pastorale Zukunftsweg ausgesetzt. »Da haben viele Leute gesagt: Nee, da machen wir nicht mit«, sagt Meurer. »Ich kann das verstehen.« Die Krise zerreiße die Kirche aber nicht, sagt Meurer. »Dass die Leute aus der Kirche austreten, ist doch ganz im Sinne Jesu: ›Ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen‹, Matthäus 23.« Die Kirche sei nur Werkzeug. Wenn das nicht mehr funktioniere, brauche man eben ein anderes. »Es geht darum, das Reich Gottes zu verwirklichen — nicht um die Bischöfe.«

Kirchenaustritte hat Meurer in Höhenberg und Vingst nicht zu verzeichnen. »Das lohnt sich für die armen Menschen hier finanziell nicht.« Das Gemeindeleben ist intakt, nicht Woelki, sondern Corona macht den Menschen zu schaffen. Bis vor kurzem gab es deshalb keine Messen. Das Hirtenbrief-Video hätte Meurer aber gezeigt. »Aber ich hätte ’ne Kurzfassung genommen, und dann lieber noch was dazu gesagt.«