Eine Begründung für No-Covid lautet, Gesundheitsämter könnten Infektions­ketten besser nach­verfolgen

»Das kam überraschend«

Oberbürgermeisterin Henriette Reker spricht sich angesichts der Corona-Pandemie für eine »No Covid«-Strategie mit strengen Einschränkungen aus. Doch ihr Alleingang verärgert viele in der Politik

Wenn Historiker*innen einmal auf die Kölner Politik der Corona-Zeit zurückblicken, sollten sie dem Februar 2021 besondere Aufmerksamkeit widmen. Bald ein Jahr Pandemie und ein zäher Winter im Shutdown lagen hinter den müden Kölner*innen, die zudem gerade schweren Herzens den Straßenkarneval abgesagt hatten, als ihre Oberbürgermeisterin die Zügel noch fester anziehen wollte. Kanzlerin und Ministerpräsidenten hatten sich wegen stagnierender Infektionszahlen und grassierender Mutanten dazu entschlossen, die Kontaktbeschränkungen für den öffentlichen Raum ein weiteres Mal zu verlängern. Für die Kölner*innen kam es noch dicker. Sie durften bis in den März hinein fortan auch in ihren Wohnungen nur noch eine einzelne Person empfangen, ausnahmsweise mit ­Kindern. So bestimmte es eine Allgemeinverfügung vom 5. Februar, gezeichnet vom Leiter des Gesundheitsamtes, dem Arzt Johannes Nießen, unter dem Briefkopf der Oberbürgermeisterin. OB Henriette Reker hatte eigentlich geplant, auch nächtliche Ausgangssperren und ein Alkoholverbot aufzunehmen. Das Karnevalswochenende stand vor der Tür. Das Landesgesundheitsministerium hatte ihr das allerdings untersagt.

Für die Mitglieder des Stadtrats kam das alles unerwartet. Am Abend zuvor noch saß das höchste Gremium der kommunalen Selbstverwaltung zusammen, coronakonform in reduzierter Besetzung. Reker leitete die Sitzung. Ein Bericht zur aktuellen Situation stand auf der Tagesordnung. Von der neuen Allgemeinverfügung und den Kontaktbeschränkungen im privaten Bereich erfuhren die Ratsleute wohl aber erst am nächsten Morgen. »Sie hat uns das nicht vorgestellt, obwohl sie die Gelegenheit ja hatte«, sagt Volker Görzel. Der Anwalt sitzt seit 2017 für die FDP im Rat. Der »starke Eingriff in die persönliche Freiheit« ohne jegliche politische Beratung habe ein »ungutes Gefühl« in ihm ausgelöst, sagt Görzel. Es sollte nicht die einzige Irritation im Verhältnis zwischen Rat und Stadtspitze bleiben.

Kurz darauf, am 17. Februar, erfuhren die Kommunalpolitiker aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass sich die OB für »No Covid« ausspricht, eine Strategie, die der Kölner Uniklinik-Professor Michael Hallek mit Soziolog*innen, Wirtschaftsforscher*innen und Vertre­ter*innen anderer Disziplinen erdacht hat. Räumlich begrenzt sollen dabei die Infektionen strikter eingedämmt werden als bislang angestrebt. Erst dann sollen Lockerungen folgen. Weil sich benachbarte Regionen koordinieren, entstehen, so die Vorstellung der Wissenschaftler*innen, wachsende Cluster, in denen das Leben wieder weitgehend normal abläuft. Wo die Infektionen aufflammen, kehren die Beschränkungen zurück. In der Öffentlichkeit wurde die »No Covid«-Strategie schnell auf das Ziel eines Inzidenzwertes unter 10 reduziert und teils scharf kritisiert.

 Auch Reker fand nur wenig Unterstützung. Mit immer neuen Zielen werde die Bevölkerung verwirrt, hieß es aus der Staatskanzlei von Ministerpräsident Armin Laschet (CDU). In ihrer eigenen Stadt stieß dagegen vor allem Rekers Stil auf Verwunderung: Weder hatte sie die Fraktionen von CDU und Grünen informiert, deren Parteien sie als parteilose Kandidatin im OB-Wahlkampf unterstützt hatten, noch hatte sie die Stadtoberhäupter der Nachbarkommunen mit ins Boot geholt. Ihren Vorschlag tat Reker nach einer großen Online-Beratungsrunde mit Hallek und anderen kund. Außer ihr nahmen weitere Führungskräfte der Verwaltung teil, aber keine Politiker*innen. Ein Protokoll gab es nicht.

»Der Vorschlag kam überraschend«, sagt die stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses Ursula Gärtner (CDU). Er habe zu einer eingehenden Diskussion geführt, hält sie Reker zugute. Bei den Beratungen im Vorfeld wäre Gärtner aber trotzdem gern dabei gewesen.

Die Diskussion ist verebbt. Politische Unterstützung fand Reker auch in Köln keine. »Wir leben nicht im Reagenzglas. Wir können keinen Stacheldraht um die Stadt ziehen, um zu verhindern, dass die Leute woanders einkaufen fahren«, formuliert Gärtner ihren pragmatischen Einwand.

Der Vorsitzender des Gesundheitsausschusses Ralf Unna (Grüne) sagt, Reker habe sich von der »Lindenthaler Professor*innenriege« irreleiten lassen. Die Infektionen zu bremsen, sei nur möglich, wenn es gelinge, alle Köl­ner*innen mitzunehmen. Michael Paetzold, für die SPD im Gesundheitsausschuss, vermutet einen »nicht durchdachten Schnellschuss«.

Eine Begründung für No-Covid lautet, dass Gesundheitsämter Infektionsketten nur nachverfolgen können, wenn sie nicht überfordert seien. Reker selbst widersprach im Februar bereits entschieden, dass das für Köln gelte. Die Nachverfolgung gelinge durch die enorme Aufstockung des Personals im Gesundheitsamt inzwischen ­gut. Darin ist sie sich mit den Politiker*innen einig. Diese Begründung für No-Covid fiel damit jedoch weg.

Geblieben ist Misstrauen zwischen Stadtspitze und Teilen des Rates. Die Leitung einer regelmäßigen Informationsrunde für die Ratsfraktionen übergab Reker an ihre Beigeordnete Andrea Blome, die als neue Stadtdirektorin im Gespräch ist (siehe auch Titelgeschichte ab Seite 30). Der Informationsgehalt sei gering, sagt ein Teilnehmer. Paetzold beklagt ein »relativ arrogantes« Auftreten der Verwaltung. Im Gesundheitsausschuss wollte seine Fraktion wissen, warum die Politik nicht früher in die Überlegungen zur No-Covid-Strategie eingebunden wurde. In der schriftlichen Antwort heißt es, Reker habe nur ihre Unterstützung für den Ansatz zum Ausdruck bringen wollen. Der Krisenstab habe keine Entscheidung getroffen. »Eine Informationspflicht der Oberbürgermeisterin zu den von ihr vertretenen Meinungen und Haltungen gegenüber den Ausschüssen besteht indes nicht«, heißt es weiter. Reker hat inzwischen in der Presse klarzustellen versucht, dass sie No-Covid nicht unmittelbar umsetzen wollte. Von einer 10er-Inzidenz als Marke hat sie sich distanziert.

FDP-Politiker Volker Görzel glaubt, die Verwaltung nutze die Einschränkungen des politischen Betriebs derzeit, um freier agieren zu können. Und Reker habe sich schon lange gewünscht, der Pandemie entschiedener entgegenzutreten. Tatsächlich hat Reker in Interviews oft mehr Handlungsspielraum für die Kommunen gefordert. Um Rückhalt dafür im Rat hat sie sich ebenso wenig bemüht wie um eine konkrete Umsetzung der No-Covid-Strategie. Dennoch: Ihre Unterstützer richten den Blick nach vorne. »Es ist ja nichts passiert. Damit sehe ich das als erledigt an«, sagt CDU-Politikerin Ursula Gärtner. Es sei grundsätzlich richtig, dass die Fachleute in der Verwaltung die wesentlichen Entscheidungen in der Pandemie träfen. Ralf Unna von den Grünen ist zuversichtlich, dass die Verwaltung inzwischen gelernt habe, wie wichtig die Politik derzeit als »Transmissionsriemen« sei, der die Bevölkerung mitnehmen könne. Impfen und Testen seien die nun anstehenden Aufgaben. Jörg Detjen von der Linken im Rat zieht ähnliche Schlüsse. Er sagt zu Rekers No-Covid-Vorschlag, Köln habe als Millionenstadt »genug Probleme am Hals«. Es gelte unter anderem sicherzustellen, dass endlich auch Obdachlose und Geflüchtete geimpft würden.