Mathieu und Cedric: Im Wellenbad der Gefühle

Sommer wie Winter

Sebastién Lifshitz’ Frühwerk gehört zu den Klassikern des queeren Kinos

»Fast nichts«. So nannte Sebastién Lifshitz die Geschichte von Mathieu und Cedric, die sich verlieben: »Presque rien«. Der deutsche Verleih machte daraus »Sommer wie Winter«, und verweist damit auf die nonlineare Erzählstruktur, die hin und her springt zwischen der stürmischen Sommerromanze der beiden jungen Männer und Mathieus Versuch zu verstehen, warum es danach zum Bruch kam — 18 Monate und einen Selbstmordversuch später. Der Film aus dem Jahr 2000 wurde ein Klassiker des Queer Cinema. Eine Coming-Out-Geschichte, die weit mehr ist als das, ihren jugendlichen Figuren Geheimnisse lässt und ihre Geschichte in Fragmenten erzählt, nicht alles auflöst. Was war am Ende? Fast nichts, und zugleich hat sich eine ganze Welt geöffnet, in kleinen Augenblicken.

Nun wurde das Langfilmdebüt des 1968 geborenen Lifshitz aufwändig restauriert und ist im Rahmen der Queerfilmnacht, die pandemiegedingt online stattfindet, zugleich Auftakt einer kleinen Werkschau des französischen Filme­machers. Nachdem er sich in den letzten Jahren dem Dokumentarischen zugewandt hat, sind nun im Salzgeber Club (salzgeber.de/club), seine frühen fiktionalen Arbeiten in restaurierten Fassungen wiederzuentdecken. Ab dem 13. Mai läuft »Wild Side« (2004) , der den Teddy-Award für den besten Spielfilm gewann. Stéphanie, einst als Pierre im Norden Frankreichs geboren, jobbt auf dem Pariser Trans*strich. Als ihre Mutter im Sterben liegt, reist sie in Begleitung ihrer Wahlfamilie, einem arabischen Sexarbeiter und einem russischen Deserteur, noch einmal in den Ort ihrer Kindheit. Und eine Woche später gibt es auf der Plattform noch Lifshitz’ Regiedebüt »Offene Herzen«. Rémi steht kurz vor dem Abitur, aber planlos, wie es danach weitergehen soll. Ein Junge zwischen allen Stühlen, seine französische Mutter verstorben, der aus Nordafrika stammende Vater schwerkrank. Auch sexuell ist er nicht festgelegt, hat ein Verhältnis mit einem Filmregisseur, unverbindlichen Sex mit einer jungen Tänzerin und Abenteuer im Pornokino.

Schon hier zeigen sich Motive und Stilmittel, die Lifshitz’ Spielfilme besonders machen. Seine Filme sind Queer Cinema im besten Sinne, nicht als Genre oder identitätspolitisches Label, sondern als Kino, das sich gerade im Fluiden und Unbestimmten bewegt, nicht fixiert, sondern fragmentarisch die Gesamtheit der Gefühlswelt aus­lotend. Der studierte Kunsthistoriker ist weniger an Narration als

an Bildern und aufgeladenen Momenten interessiert. Wie in den Privatfotos, die er seit Jahren auf Flohmärkten sammelt, immer nach einem Geheimnis, der Geschichte dahinter fahndend. Seine Autorenfilme handeln von jungen Menschen aus schwierigen Verhältnissen — mit einer ungestillten Sehnsucht nach einem besseren Leben, nach Freiheit und Liebe. Eine verlorene Jugend mit großen Träumen und wenig Illusionen, auf der Suche nach sich selbst angesichts einer unbestimmten Zukunft. Lifshitz inszeniert existenzielle Roadmovies: Eine Weile begleitet er seine Figuren auf diesem Weg, abseits der Prinzipien des linearen Erzählens, und ohne sie psychologisch zu erklären. Gerade diese Offenheit erweist sich immer wieder als das große Glück seines Kinokosmos.

Seit zehn Jahren wendet sich Lifshitz verstärkt dem Dokumentarischen zu und erzählt mit »Die Unsichtbaren«, »Bambi« und zuletzt der Langzeitstudie »Kleines Mädchen« Lebensgeschichten jenseits heteronormativer Konventionen. Auch sie sind im Salzgeber Club verfügbar und unbedingt sehenswert. Doch gerade das erneute Sehen seines fiktionalen Frühwerks lohnt sich, darin liegt der Schlüssel zu Lifshitz’ Bilder- und Gedankenwelt. Filme wie »Sommer wie Winter« haben nichts von ihrer Faszination verloren, erweisen sich in der zeitlichen Distanz als Solitäre in der oft ästhetischen Ödnis des nichtheterosexuellen Films der zwanzig Jahre.

(Presque rien) F 2000, R: Sebastién Lifshitz, D: Stéphane Rideau, Jérémie Elkäim, Dominique Raymond, 100 Min., ab 1.5. unter queerfilmnacht.de zu sehen