»Unter dem Meerespiegel«: Parellelweltenhorizont

Rosi auf Mubi

Gianfranco Rosis Dokus stellen Verhältnisse und Sehgewohnheiten gründlich in Frage

Gianfranco Rosi ist hierzulande vor allem bekannt, weil er 2016 mit dem Goldenen Bären für den Dokumentarfilm »Seefeuer« ausgezeichnet wurde, dessen unsentimentaler Humanismus das massenhafte Sterben im Mittelmeer subtil mit dem Alltag der Bewohner Lampedusas verknüpft. Zwar hat der 1963 in Eritrea geborene Italiener bereits vor gut einem Vierteljahrhundert mit dem Filmemachen begonnen, doch die vor »Seefeuer« gedrehten Filme waren, mit einer Ausnahme, nie in deutschen Kinos zu sehen. Nun sind sie alle beim Streamingdienst Mubi verfügbar — was das Warten auf einen Kinostart von Rosis jüngstem Film »Notturno« versüßt.

In seinem atemberaubenden Debüt »Boatman« beobachtet Rosi hinduistische Bestattungsriten auf dem Ganges, während er in »Der Auftragskiller — Zimmer 164« ein ehemaliges Kartellmitglied die Mordpraktiken der mexikanischen Mafia erklären lässt. Mit dem Kurzfilm »Tanti futuri possibili« sowie mit »Das andere Rom«, dem Venedig-Gewinner von 2013, erkundet er indes die römische Peripherie. Dabei führt der Dokumentarfilmer die Kamera stets selbst und verzichtet auf Off-Kommentare oder Interviewfragen — was uns beiläufig dazu anregt, Erzählperspektiven und -strukturen zu hinterfragen.

Rosis Gewohnheit, jahrelang zu drehen, kommt wiederum seinem schönsten Film besonders zugute: »Unter dem Meeresspiegel« porträtiert ein Dutzend Obdachlose, die auf einem ehemaligen Militärgelände inmitten der kalifornischen Wüste in Wohnwagen, Bussen und Zelten kampieren. Einer dieser Eigenbrötler proklamiert früh den unbedingten Anspruch auf Privatsphäre — weshalb umso bezeichnender ist, dass die Kamera auch in intimsten Augenblicken geduldet wird. Das scheint symptomatisch für den Widerspruch im Selbstverständnis dieser Leute, ein Widerspruch, dem dieser wunderbare Film viel besser gerecht wird als der aktuelle Oscar-Favorit, Chloé Zhaos thematisch verwandter Spielfilm »Nomadland«.

Einerseits unterstreicht Rosi Parallelen zu amerikanischen Freiheitsmythen, wenn er die Komposition eines schönen Countrysongs begleitet, der im trotzigen Bekenntnis zu weltabgewandtem Individualismus gipfelt. Andererseits lässt er uns aber auch wissen, wie weit man sich dem Zugriff der Polizei entziehen muss, bevor man überhaupt ungestört unter freiem Himmel schlafen kann. Und vor allem arbeitet er ebenso zärtlich wie beharrlich heraus, dass sogar zähester amerikanischer Pioniergeist von materieller Not irgendwann an physische und psychische Grenzen gestoßen wird.

Die Filme sind unter mubi.com/de/specials/gianfranco-rosi abrufbar