»Careless Crime«: Spiel mit dem Feuer

Spezialitäten und Sensationen

Das Festival »Visions of Iran« zeigt online spannende Filmkultur abseits jeglicher Klischees

Vielleicht kann man die Bedeutung und Qualität von Visions of Iran am besten beurteilen, wenn man sich andauernd auf Festivals herumdrückt. Dort bekommt man nämlich selten zu sehen, was eben dieses Festival Jahr für Jahr den Kölnerinnen und Kölnern zeigt. Das ist als großes Kompliment gemeint. Im Programm von Visions of Iran geht es nie darum, was auf der Hipster- und Checker-Ebene der letzte Schrei ist. Wichtiger ist stets die Frage, was zu zeigen sinnvoll ist, weil es einem etwas erzählen kann über den Iran abseits der hiesigen Klischees — diese eher korrigiert, konter­kariert, manchmal glatt desavouiert. Dabei wird jedes Genre berücksichtigt. So präsentierte das Festival letztes Jahr zwei exzellente Arbeiten von Naturfilm-Auteur Fathollah Amiri. Daher vermisst man dieses Jahr höchstens die durchs Bild kreuchenden Tughornvipern, ansonsten ist auch in der aktuellen Onlineausgabe mal wieder viel geboten.

Ebenfalls 2020 lief eine Dokumentation über iranische Eishockey­spielerinnen. Diesmal will eine Frau am Entscheidungsturnier für die nationale Schießsportauswahl teilnehmen — gegen den Willen ihres Gatten, der sich auf gesetzlich sicherem Boden wähnt. Die Sportschützin flieht und findet sich in einem Auto wieder. Zusammen mit einem Fahrer, der seine eigenen existenziellen Probleme hat. Einer seiner Freunde, ehemaliger internationaler Meister im Ringen, soll in zwei Tagen am Galgen sterben. Seyedeh Farzane Aminis Spielfilm »Highway« ist ein Autokammerspiel sowie ein Beitrag zum Genre des Todesstrafenfilms. Die schiere Menge an Werken, die um das Thema kreisen, sollte eine Ahnung davon gegen, wie gegenwärtig diese Strafvollzugspraxis im iranischen Alltag ist und wie viele Menschen direkt davon betroffen sind. Dass mit Mohammad Rasoulofs »Doch das Böse gibt es nicht« ein gestalterisch tapsiger, allgemein­humanistischer Genre-Beitrag 2020 den Goldenen Bären gewann, zeigt noch am ehesten, wie wenig bekannt diese Art Film hier ist. Und hält man die Gleichgültigkeit dagegen, mit der die Berlinale in diesem Jahr Maryam Moghaddams und Behtash Sanaeehas ungleich differenzierteren und komplexeren »Ballad of a White Cow« behandelte, beschleicht einen das Gefühl, dass die zugrunde liegende Wirklichkeit im hiesigen Kino­betrieb schon gar niemanden kümmert. »Highway« jedenfalls überzeugt auch dadurch, dass Regisseur Amini den letztlich doch sehr konzeptuellen Grundansatz — der ganze Film besteht aus einer Autofahrt — entspannt unterläuft. Nämlich indem er seine szenische Auflösung flexibel und zweckmäßig hält, frei von allen Manierismen, die Drehbuch­entfaltung wie Schauspielarbeit diskret unterstützend.

Das zweite herausragende Spielfilm-Debüt des diesjährigen On­­line-Programms, Pouya Eshtehardis »Untimely«, ist so etwas wie die gestalterische Antithese zu »Highway«. Im Mittelpunkt der ziemlich zersplitterten Geschichte steht ein Soldat, der zur Hochzeit seiner Schwester reisen will, aber nicht darf. Nun versinkt er in Gedanken, was seiner Aufmerksamkeit abträglich ist. Für sich genommen ist »Untimely« ein so feinsinniges wie fein gewobenes Vexierspiel über Zeit- und Realitätsebenen, dessen Komplexität zwar stets gewollt doch nie eitel oder ästhetizistisch wirkt.

Darüber hinaus absolut empfehlenswert ist Shahram Mokris Meister­werk »Careless Crime«. Der Film spielt, vorsichtig gesagt, auf einer völlig anderen Reflexionsebene. Es nicht nur um Realität und Imagination, Erinnerung und deren Fallstricke, sondern um iranische Ge­­schichte — dem Cinema-Rex-Brand im August 1978, dessen Visions of Iran 2019 in einer spektakulären Sonderschau gedachte. Weshalb das Kölner Publikum ein Zuschauern außerhalb des Irans ansonsten kaum geläufiges Zentralelement zum Verständnis von »Careless Crime« kennen könnte: Masud Kimiais »Gavaznha — The Deer« (1974), der am Tag des realen Brands im Cinema Rex lief, und der 2019 im erwähnten Sonderprogramm gezeigt wurde. Viele der Figuren in »Carelles Crime« reden über »Gavaznha«, wiederholen fast manisch Dialoge aus dem Film, diskutieren Szenen, beschwören die populärkulturelle Bedeutung des Werkes — von dem man hier aber nur einen leinwandzipfelkleinen Ausschnitt zu sehen bekommt! In gewisser Hinsicht erahnt man nach »Careless Crime« den Grund für die weit ausgreifende Kino-Faszination im Iran — ist doch die moderne Geschichte des Landes aufs Engste mit dieser Kunst verbunden.

Im Vergleich mit einem solchen Essayspiel-Monument wirkt Sahar Khoshnams »Bakht-e-Parishan« angenehm altmodisch und erfreulich lehrreich: Durchgearbeitet wird anhand von Interviews und Filmausschnitten die Geschichte der Gegenwart von Frauen im iranischen Kino vor 1979. Es geht sowohl um die Wahrnehmung und Wertschätzung von Schauspielerinnen als auch um die Figuren, die sie darstellten. Khoshnam musste offenbar mit geringsten Mitteln arbeiten — die Ausschnitte sind von oft unterirdischer Qualität, was man ihr jedoch bitte nicht vorwerfen darf! Die (halb-)öffentliche Materiallage, also das, was sich via Youtube und anderen Webseiten finden lässt, ist wirklich dürftig. Auch wenn sich die Dinge langsam ändern. Von einigen der Werke, die sie zitiert, gibt es mittlerweile exzellente Digitalrestaurationen. Eine wird auch im Festivalprogramm 2021 zu sehen sein: Mohammad Reza Aslanis formalistischer Psycho-Thriller »The Chess Game of the Wind« (1976), der sich letztes Jahr in der Festivalwelt zur Entdeckungssensation entwickelte. Visions of Iran scheut eben mitunter auch nicht das Offensichtliche — wenn es denn passt und gerechtfertigt ist.

Visions of Iran

Onlineausgabe: Do, 10.6.–So, 20.6.
iranian-filmfestival.com