Körperlich, Ekstatisch, Getrieben

Die Ausnahmegitarristin Ava Mendoza spielt auf der Monheim Triennale. Fred Frith schreibt hier über ihre ­außergewöhnliche Musik

Musiker zu sein, bedeutet auch, ein Fan zu sein, ein Historiker, ein Kulturanthropologe, ein Forscher. Man erlebt die Musik körperlich, vielleicht sogar ekstatisch, mit dem ganzen Körper. Und dann taucht man darin ein, vergleicht, studiert und versucht zu verstehen. Langsam dringt es zu einem durch, es dringt in einen hinein, man findet heraus, wer man ist, und man macht sich auf den Weg, den man gewählt hat. Oder hat der Weg einen gewählt?

Ava Mendoza & Fred Frith

Dass Ava Mendoza zur Monheim Triennale eingeladen worden ist, ist ein Glücksgriff: Die kompromisslose, dabei nie unzugängliche Musik der 1983 in Miami geborenen Gitarristin verkörpert radikale Gegenwart und ist dennoch traditionsbewusst. Spontaneität und musikali­sches Wissen verschmelzen, und das macht sie für die Triennale so interessant.

Dass Fred Frith sich Mendoza widmet, ist ebenfalls ein Glücksgriff: Seit 50 Jahren operiert er, ebenfalls Gitarrist, an den Nahtstellen von Rock, Free Jazz und Neuer Musik. Er blickt als geistesverwandter auf Mendozas Musik.

Dieser Text entstand im Auftrag der Monheim Triennale. Texte zu weiteren Künstlerinnen der Monheim Triennale finden sich auf der Website des Festivals: monheim-triennale.de

Übersetzung: Elfi Gilissen



Ava Mendoza ist all das oben genannte. Ihre Musik ist körperlich, ekstatisch, getrieben. Wenn man der Gitarristin beim Spielen zusieht, ist man wie hypnotisiert, man spürt es tief in einem und lässt es auf sich wirken, lange bevor man anfängt, darüber nachzudenken. Und sie ist ein markantes Beispiel für die Generation, deren Selbstbildung durch das Internet als unendliche Ressource verändert wurde. Sie drückte es in einem Interview mit dem Portland Mercury im Jahr 2019 so aus:

»Ich hatte ein paar High-School-­Freunde, die sich schon sehr für Jazz interessierten und mich auf Albert Ayler und Cecil Taylor brachten. Was den Blues angeht, so fand ich Captain Beefheart toll und las irgend­wo, dass er wie Howlin’ Wolf klingt, also hörte ich mir Howlin’ Wolf an. Dann dachte ich, ich sollte mir älteren Blues anhören, also beschäftigte ich mich mit Robert Johnson und Skip James und Rev. Gary Davis. Es war eben das Internet des 20. Jahrhunderts und man konnte jetzt erstmals alles recherchieren und sich kostenlos massenweise Musik anhören. Das ich früh auf interes­san­te Sachen traf, lag einfach daran, dass ich mit Musikfreaks in meinem Alter sprach, Interviews las mit Musikern, die ich mochte, und sie dann einfach aufgespürt habe.«

Ava verkörpert, was es bedeutet, eine arbeiten­de Musikerin zu sein Fred Frith

Das erklärt einiges. Der Sprung von Punk zu Free Jazz ist zwar durchaus üblich, aber die von Ava erwähnten Blues-Musiker haben sie ganz offensichtlich nachhaltig beeinflusst. Ihr atemberaubendes erstes Album »Shadow Stories« (Resipiscent, 2010) kann man als Hommage werten. Wenn ich es mir wieder anhöre, erinnert es mich an das erste Mal, als ich sie spielen hörte. Präsenz, Fokus, Autorität, Intensität. Schon jetzt. Selbstverständlich entsteht das nicht einfach so, sondern durch die vielen Stunden, die sie da investiert hat. Und Ava verkörpert, was es bedeutet, eine arbeitende Musikerin zu sein. Ich fragte mich, wie das Musikerin sein in COVID-Zeiten für sie ist:

»Das war unterschiedlich. Ich habe Phasen durchlaufen, in denen ich fünf, sechs Stunden am Tag gearbeitet habe, und Phasen, in denen ich nur eine halbe Stunde am Tag was gemacht habe. Das Wichtigste für mich ist, jeden Tag etwas zu machen, egal wie wenig oder viel. Es gab einige Wochen, in denen ich mich nur mit der praktischen Realität auseinandersetzen musste und die Gitarre kaum anfasste. Es war mindestens ein Jahrzehnt her, dass das mal vorgekommen war. Und ich begann es wirklich zu spüren — sowohl mental als auch körperlich. Das Üben ist sehr befreiend und außerdem meine Art zu meditieren oder zur Ruhe zu kommen. Und ich spiele ziemlich intensiv. Wenn ich nicht regelmäßig spiele, fühlt sich mein ganzer Körper anders an, als ob ich mit dem Sporttraining aufgehört hätte und meine Muskeln erschlaffen! Aber da keine richtigen Auftritte anstanden, brauchte ich etwas Zeit, um zu verstehen, woran ich arbeiten wollte, in welche Richtung ich gehen wollte in all der Frei­heit. Es war sehr gut für mich, weil ich so einige Prioritäten klargestellt habe, die mir wirklich wichtig sind.«

Das macht sehr viel Sinn. Eine längere Periode ohne Auftritte ist für jeden Musiker sehr beunruhigend. Die Herausforderung besteht darin, für sich selbst zu definieren, was man üben will und für wen man das übt. Manche machen sich Gedanken über die Feinheiten der Technik, und in dieser Hinsicht ist Avas Meinung ziemlich eindeutig:

»Bei der Gitarre hatte ich immer das Gefühl, dass die Art und Weise, wie man etwas spielt, genauso wichtig ist wie, oder vielleicht sogar wichtiger als das, was gespielt wird. Wenn ich dieselben drei Akkorde nehme und sie auf unterschiedliche Weise spiele — frei heraus oder mit verschiedenen Arten von Vibrato, nach oben oder unten gleitend, das Tempo vorantreibend oder hinter dem Beat spielend, eindringlich oder leicht und so weiter — dann verändert sich dessen Bedeutung komplett. Mit Technik kann man ein Arpeggio schneller spielen oder den Klang eines Geparden erzeugen, der erwürgt wird! Für mich ist Technik jede Art und Weise, das Instrument in einer einigermaßen konsistenten Weise zu bespielen: Es gibt eine gewisse Konsistenz in der Art und Weise, wie das ausgeführt wird, und in dem Klang, den sie erzeugt.«

Wie sieht es mit dem Komponieren aus?

»Ich mag verschiedene Prozesse für unterschiedliche Ergebnisse. Manchmal komponiere ich komplett auf der Gitarre, Ziel ist, dass sich die Dinge gut anfühlen auf dem Instrument, gitarrenmäßig sind und das Spielen Spaß macht. Ich denke mir Parts für die anderen Instrumente aus und nehme sie mehrspurig auf, um sie dann später die Noten dazu zu schreiben. Aber manchmal komponiere ich auch direkt in Sibelius (Software). Das lenkt mich von all dem ab, was ich normalerweise auf der Gitarre spiele, und bringt mich dazu, einfach Intervalle und Rhythmen und so weiter zu hören. So komme ich auf Ideen für Sachen, die ich sonst nie machen würde. Oft ist es dann eine Herausforderung, sie anschließend auch auf dem Instrument spielen zu lernen!«

In letzter Zeit hat Ava ihre Liebe zur Decoding Society, dem kultigen 80er-Jahre-Ableger von Ornette Colemans Prime Time, als Ansporn genutzt:

»Ronald Shannon Jacksons Art Schlagzeug zu spielen und zu komponieren ist generell eine große Inspiration. Aus meiner Sicht nutzte Decoding Society Ornettes Methode der Harmolodics und Improvisation als Sprung­brett und ging in eine neue Richtung — straffer, rockiger, viszeraler und ekstatischer. Ich versuche, das als Ausgangspunkt zu nehmen ... die Idee ist, einige der Arbeiten von Ronald Shannon Jackson auf modernes Terrain zu übertragen — mit Atonalität und Poly­tonalität, Klangimprovisation, moderneren rhythmischen Konzepten — und dabei von ihren ­schönen melodischen und polyrhythmischen Qualitäten inspiriert zu bleiben.«

Ein Teil der Vorgaben in Monheim besteht aus die Zusammenarbeit mit anderen eingeladenen Künstlern, mit denen man vielleicht etwas gemein hat, vielleicht auch nicht. Auf die Frage in einem ähn­lichen Zusammenhang, ob eine solche Aussicht aufregend oder einfach nur beängstigend sei, war Avas Antwort pragmatisch:

»Ich denke, Musik ist grundsätzlich aufregend und kann Ängste auslösen! Ich würde nicht sagen, dass es mich ängstlicher macht, improvisierte Musik mit neuen Leuten zu spielen als einstudierte Songs allein oder mit Leuten, die ich gut kenne. Vielleicht klingt das seltsam, aber ich denke, in beiden Situationen gibt es Chancen und Fallstricke. Bei jedem Song, den man spielt, gibt es immer etwas zu improvisieren — Timing, Ton, Dynamik, Anpassen an den Rest der Band usw. — und es gibt immer ein gewisses Maß an Vorbedacht oder Übung, das dann in improvisierte Musik einfließt. Wenn ich mit neueren Leuten spiele, denke ich vielleicht im Voraus über ihren Stil nach und darüber, was wir am besten zusammen machen könnten, aber letztendlich muss ich einfach aufmerksam sein und in dem jeweiligen Moment reagieren.«

Andererseits, wenn man Avas Version von »Motherless Child« mit dem Can-Sänger Malcolm Mooney hört, fühlt sich jeder Moment wie ein ganzes Leben, jeder dunkle Akkord wie ein Lichtjahr an. Es ist die extreme Elastizität des Augenblicks, die unsere volle Aufmerksamkeit auf sich zieht und hält. Eine konstante Flamme, die dahinter brennt — die Leidenschaft gelebter Erfahrung — sie zeigt sich, wenn über die Behandlung von Einwanderern in den Trump-Jahren gesprochen wird:

»Diese Sache geht einem nahe, wenn man in der Community von Einwanderern involviert ist, und hoffentlich auch, wenn man einfach nur ein Mensch ist. Mein Vater stammt aus Bolivien, ich bin mit vielen Einwandererfamilien aufgewachsen. Deshalb finde ich die Dinge, die an der Grenze in den USA ablaufen, und die ständige Paranoia, die von unserer Regierung und der US-amerikanischen Polizei- und Zollbehörde an den Tag gelegt wird, einfach furchtbar.«

Hören Sie sich »The Paranoia Party« auf ihrem Album »Unnatural Ways« (New Atlantis Records, 2015) an und Sie können es fühlen. Wovon handelt der Text? »Grenzen und wie sich ihre Durchsetzung auf die Menschen auf der anderen Seite auswirkt ... Grenzen, Grenzübertritte, das Konzept, wer rein und raus darf.« Das kann man wörtlich nehmen, aber natürlich auch metaphorisch. Die Musikwelt ist, wie die meisten Communitys, voll von Kästchen und Grenzen und unausgesprochenen Annahmen und Regeln, und Leuten, die dir immer gerne sagen, wer du bist und wo du hingehörst. Ich möchte fast sagen, man gewöhnt sich daran. Aber besser ist es, wenn man sich nicht daran gewöhnt!

Bei Ava Mendozas Musik geht es darum, sich »nicht daran zu gewöh­nen«. Es ist ein Ruf, manchmal ein Aufschrei, manchmal ein Flüstern, aber Sie werden zuhören, angetrieben von den Qualitäten, die ihr Spiel auszeichnen — die leidenschaftliche Präsenz, der Fokus, die Autorität, die Intensität und, nicht zu vergessen, die Virtuosität, die aus all der berauschenden harten Arbeit heraus entsteht.

Monheim Triennale: »The Prequel«, 1.–4.7.

Die gute Nachricht: Die Monheim Triennale findet dieses Jahr statt — und wenn irgend möglich vor Publikum. Die Entscheidung darüber kann aus den bekannten Gründen nur kurzfristig bekanntgegeben werden. Aber so oder so — alle 16 Artists sind eingeladen, Anfang Juli an den Rhein zu kommen. Zahlreiche Zusagen liegen bereits vor. »The Prequel« heißt: Die Musikerinnen und Musiker reisen als Solisten an, ihre angestammten Projekte und Bands lassen sie zu Hause, stattdessen lernen sie sich untereinander kennen und entwickeln vor Ort neue Projekte. Dennoch erwartet sie in Monheim ein Programm: Vor 50 Jahren schloss Carla Bley ihr Mammutwerk »Escalator Over The Hill« (EOTH) ab, die großartigste Hippie-Fantasie, die der Jazz jemals erfahren durfte. Sie wird einer der Fixpunkte von »The Prequel« werden. Zahlreiche musikalische Aktionen des Prequels werden sich EOTH widmen.

monheim-triennale.de
avamendozamusic.com