Arbeit an »Glückliche Nichtstuer«: Konstantin Faigle, Foto: Maximilian Erbacher

Melancholischer Realismus

Vor fünf Jahren verstarb der Dokumentarfilmemacher Konstantin Faigle. Das Werk des Wahlkölners steckt voller aktueller Themen

Wenn man die Dokumentarfilme Konstantin Faigles heute betrachtet, fallen zwei Aspekte besonders deutlich auf: die unerbittliche Gegenwart des Filmemachers in Werken wie »Out of Edeka« (2001), »Die große Depression« (2005) oder »Frohes Schaffen — Ein Film zur Senkung der Arbeitsmoral« (2012). Und die heutige Gegenwärtigkeit seiner Themen: Herkunft, Identität, Arbeit. Nur der Umgang des im Juni 2016 in Köln verstorbenen Faigle damit erscheint aus jetziger Sicht ungewöhnlich.

Vor 20 Jahren wurde Konstantin Faigles Debüt »Out of Edeka« mit dem Bayrischen Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet. Der Film behandelt die Kindheit und Jugend Faigles. Dessen Elternhaus im Nordschwarzwald war fest mit der Edeka-Filiale verwachsen, die Faigles Mutter und Vater jahrzehntelang führten. Aus dem Off kommentiert der Filmemacher Bilder des bis unter die Decke vollgestopften Supermarkts, wobei seine Stimme gleich eine neugierige Sanftheit verrät — Melancholie gepaart mit dem sprichwörtlichen Schalk im Nacken. Jener Eindruck bleibt bestehen, während er die Eltern befragt und sie in typischen Situationen mit den wenigen verbliebenen Stammkunden zeigt. Zum Verständnis gibt es Untertitel, Hochdeutsch wird in dieser Gegend höchstens in der Schule gesprochen.

Faigles gewitzter Kommentar unterwandert jedoch von Beginn an eine allzu sentimentale Anmutung. Man fragt sich unwillkürlich, ob der Erzähler hier an den Ursprung eines großen Unglücks zurückkehrt oder einer verlorenen Utopie nachhängt. Muss man nicht sowieso beides annehmen, sobald es um die persönliche Herkunft geht? Die Ästhetik wirkt beinahe trashig, manche Szenen gerade auf Grund ihrer »Gestelltheit« seltsam »natürlich«. Alles scheint den Balanceakt des Prinzips »Echtheit« in einem Dokumentarfilm zu betonen. Faigle selbst deutet an, nicht nur damals in der Karnevalsabteilung des Geschäfts, die sich skurrilerweise im Wohnbereich der Familie befindet, sondern noch als Erwachsener gerne in Rollen zu schlüpfen.

»Konstantin ist auf eine ge­­wisse Weise Kind geblieben«, sagt Maximilian Erbacher. Der Künstler hat den Filmemacher im Rahmen des Postgraduiertenstudiums an der KHM kennengelernt. Die zwei teilten sich nicht nur eine Wohnung in Köln-Riehl, Erbacher war auch an mehreren Filmproduktionen Faigles beteiligt, zum Beispiel »Glückliche Nichtstuer« (2007)

in der Fernsehreihe »Menschen hautnah«. »Konstantin Faigle war den Menschen zugewandt und sein Interesse soziologischer Natur«, beschreibt Erbacher die Motivation des Weggefährten. Er wundere sich dennoch bis heute, wie Faigle seine Eltern dazu bekommen hat, derart offenherzig auch über die bittersten Lebensphasen zu sprechen: Zeiten, in denen der Vater dem Alkohol verfallen und die Mutter der Verzweiflung nahe war. Vielleicht lag es ja genau daran — an der Rolle des fragenden Kindes. Die Position des Filmemachers wie­derum nutzt Faigle, um über die eigene Depression im frühen Teenager-Alter zu sprechen. »Out of Edeka« begleitet darüber hinaus einen schwierigen Prozess. Sowohl in der Edeka-Konzernplanung als auch in der Realität des Konkurrenzkampfs mit Shopping Malls hat der kleine Dorfladen keine Zukunft mehr. Dabei ist er nicht nur Arbeitsplatz, sondern für die Faigles zum Sinn des Lebens geworden. Der Neoliberalismus trifft ihre eherne Arbeitsmoral ins Herz.

Den Übergang zur weiterführenden Beschäftigung mit ökonomischen Zusammenhängen in einer Welt, in der jeder selbst für sein eigenes Glück verantwortlich ist — die Eltern charakterisiert Faigle als Gläubige der Arbeitsreligion — bildet demnach fast folgerichtig die Bestandsaufnahme nationaler Gesamtbefindlichkeiten. Das Porträt einer Gesellschaft, der ihr gemeinsamer Sinn abhandengekommen ist. Dabei mutet die Prämisse von Faigles »Die große Depression« merkwürdig essenzialistisch an. Der deutschen Seele und ihrer historischen Tendenz zum Jammern möchte der Filmemacher darin nachspüren. Maximilian Erbacher verkörperte während dieser etwas anderen Deutschlandreise auch mal König Ludwig II, um die Deutschen mit ihrer Ge­­schichte zu konfrontieren. Auf einer Anti-Hartz-IV-Demo in Leipzig nimmt Faigle dann die Rolle des Provokateurs ein. Ein Transparent samt Aufschrift »Deutsche, hört auf zu jammern!« in die Luft haltend, mischt sich das Filmteam unter die Wütenden. Auch im direkten Gespräch mit Demons­trant*innen vertritt Faigle »ohne mit der Wimper zu zucken«, so Erbacher, den Standpunkt des ­flexiblen Kreativen, der wenig ­Verständnis für die Lohnabhängigen aufbringt. Ein Typus, der in der Agenda 2010-­Debatte keine Seltenheit darstellte und sich  auch mal als Aushängeschild des »neuen« Deutschland vereinnahmen ließ. Geradezu prophetisch wirkt diese filmische Seelenwan­derung, wenn man an die schwarz-rot-golden leuchtende Explosion der »deutschen Seele« während der Fußball-WM ein Jahr später denkt.

In »Frohes Schaffen — Ein Film zur Senkung der Arbeitsmoral« greift Konstantin Faigle dann den roten Faden des Themas Depression im Bezug zur Arbeit wieder auf, mischt Spielfilmsequenzen mit dokumentierten Expert*innen-Interviews. Heraus kommt ein aufwühlender, bewegender Film, der auch vom Wunsch nach der Befreiung aus den herrschenden Verhältnissen erzählt. In deren absurdesten Auswüchsen die tiefliegenden Wahrheiten auf­zuspüren — das hätte man sich von Dokumentarfilmemacher ­Konstantin Faigle noch sehr viel länger gewünscht.