Sex, Tod, Biontech

Materialien zur Meinungsbildung /// Folge 231

Dinge, die verschwinden, sind oft kostbar, auch wenn sie keinen Wert besitzen. Ich bin immer erfreut, wenn ich Tabus entdecke, es gibt nicht mehr viele. Ich will diese Tabus nicht brechen; kein Freund von Schmetterlingen spießt sie auf und rahmt sie hinter Glas. Ich glaube, es sollte weiterhin Tabus geben. Sie sind ganz nützlich, damit die Welt nicht noch verrückter wird. Ich meine mit Tabus nicht hanebüchenen Behauptungen zu diesem oder jenem, ich meine Themen. Große, geheimnisvolle Themen, vor denen man ratlos und ehrfürchtig erstarrt. Früher waren das mal Sex, Tod oder Bausparverträge. Aber es gibt kaum noch Themen, die schambehaftet sind und worüber zu reden Menschen unangenehm und peinlich wäre. Niemand schämt sich mehr, während zugleich sehr viele sich angeblich fremdschämen.

Und dann kommt die »Impfdebatte« und ich als Tabu-Lieb­haber war beglückt — und geriet dann in einen bösen Strudel, weil ich dem Tabu zu nahe kam. Nun könnte man einwenden, dass eine Debatte doch ein Hinweis darauf sei, dass es sich eben nicht um ein Tabu handle. In Zeiten jedoch, in denen immer, überall und ständig »kommuniziert« wird, erkennt man Tabu­themen nicht daran, dass sie verschwiegen werden, sondern daran, wie darüber gesprochen wird — verkniffen, gereizt, überhastet.

Als ich erfuhr, dass Tobse Bongartz »schon geimpft« sei, kam in mir ein Gefühl auf, als hätte ich einen Verrat entdeckt. Der war doch noch gar nicht dran! Warum hat der denn nichts davon erzählt! Gesine Stabroth sagte, also sie habe es längst gewusst. Wie bitte? Und mir nichts gesagt? »Hä? Ja, wieso denn?!«, rief Gesine Stabroth aus. »Alle sind doch längst geimpft!« Da musste ich schlucken und mein Herz wurde mir schwer. Wie von Ferne hörte ich es, als Gesine ­Stabroth noch meinte: »Also, ich hab den Termin vom Hausarzt von Carsten und Astrid, der hatte noch Biontech!«

Wenn jemand plötzlich tot umfällt. Wenn man einen Ehebruch entdeckt. Wenn der Lieblingsfußballer zu Bayern München wechselt, dann stellt man sinnlose Fragen. »Aber warum nur, sag mir bitte nur: Warum?« Die Antwort kann nur Schweigen sein. Daher ist es immer ganz leise, wenn eine Welt zusammenbricht. Und obwohl es einem den Boden unter den Füßen wegzieht, ist es, als schwebe man, bleischwer ist man dann und doch ganz leicht. Da war ich froh, als Gesine Stabroth zu einer langen Verteidigungsrede ansetzte, die mich zumindest hoffen ließ, ich könnte mich noch fremdschämen, um wieder Halt zu finden. Und so kam es dann auch.

Es waren abenteuerlichste Schnurren. Nichts war gelogen, es war nur etwas, wie soll ich sagen, übertrieben, was Gesine Stabroth sagte: dass sie ihren Vater pflege, der weit weg in Bamberg in einem luxuriösen Seniorenstift lebt; dass sie »so eine Art Vorerkrankung« habe, weil sie von Bier manchmal Schluckauf bekomme; dass sie es nicht für sich, sondern aus »Solidarität für die Gemeinschaft« getan habe. Und die Liste derer, die auch schon geimpft seien, wurde länger und länger. Da war ich matt und müde und wollte mich mit einem stolzen Wort ein letztes Mal aufbäumen, bevor ich zusammenbrach. »Is klar«, sprach ich, »Du bist Prio 2 — und ich der Kaiser von China.« Was nicht ganz falsch war, denn den Kaiser von China stelle ich mir als einsamen, traurigen Mann vor, der bemerkt, dass alle um ihn ein Geheimnis teilen und nie wird lüften werden, bis sie mit den Schwertern vor ihm stehen.

Ich habe dann meinen Impfpass gesucht. Ich muss dringend den Tetanus-Schutz auffrischen. Man kommt morgens schnell dran, sagte die Sprechstundenhilfe, und Parkplätze gebe es vor der Tür. Sie sagte das ganz unverkrampft, ohne Scham, so als wäre es die natürlichste Sache der Welt, weil jeder einen Parkplatz haben will.