»Kaprow City«, 2006 / 2007, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Foto: Achim Kukulies, © Nachlass Christoph Schlingensief

»Riechen Sie an dem Fisch!«

In Düsseldorf wird Christoph Schlingensief derzeit gleich an drei Orten gewürdigt. Was sagt uns dieses radikale, politische, poetische Werk zehn Jahre nach Schlingensiefs Tod?

»Wichtig ist, dass Sie sich frei bewegen«, sagt Christoph Schlingensief schmunzelnd. Er steht vor einer dicht beschrifteten, unübersichtlichen Rundgangskizze und richtet ein wenig dozierend seinen Zeigestock auf Stationen des »Animatographen«. Diese begehbare Multimedia- Großinstallation erwartete das Publikum 2005 in Neuhardenberg. Geradezu klassisch ist Schlingensiefs Auftritt in dem einst von den Nationalsozialisten, dann in DDR-Zeiten genutzten Miltärflughafengelände. Der Aktionskünstler klärt auf, stets amüsant, stets auch amüsiert — in Neuhardenberg etwa mit dem Hinweis auf ein ganz besonderes Exponat: den mit totem Hasen gefüllten Fisch, für Schlingensief, wörtlich, ein »weiterenwickelter Hase von Beuys«.

Aha, wird jetzt der eine oder andere schließen, sie sind doch geistesverwandt, die beiden Protagonisten der deutschen Nachkriegs-und Gegenwartskunst — der in diesem Jahr deutschlandweit gefeierte Joseph Beuys und der erst fünfzigjährig im Jahr 2010 verstorbene Christoph Schlingensief. Aus gutem Grund bietet Düsseldorf neben zahlreichen Beuys-Veranstaltungen nun gleich mehrere Ausstellungen über die jüngere Ikone der künstlerischen Grenzüberschreitung: Beuys erweiterte bekanntlich seit den 50er Jahren den Werkbegriff zur »sozialen Plastik«. Der vom Fluxus geprägte Schlingensief sorgte ab den 80er Jahren für eine interdisziplinäre Vertiefung mit Kunst im Fluss zwischen Theater, Film, Fernsehen, Literatur und Bildender Kunst, zwischen E- und U-Kultur. Vor allem aber gleichen sich beide Künstler in ihrem extremen

Freiheitsdrang sowie einer großen Lust an publikums- und medienwirksamer und vor allem deklamatorischer Selbstdarstellung. Beuys schlug dabei häufig einen erhabenen Ton an, während Schlingensief durchaus klamaukig sein konnte, wenn er etwa bei der oben erwähnten Animatographen-Einführung die Besucher*innen zur optimalen Betrachtung des besagten Fischs mit Hasenfüllung animierte: »Riechen Sie an dem (toten!) Fisch«.

Tabubruch und Provokation gehörten zu seinem künstlerischen Tagesgeschäft: Er war der erste Theatermacher, der Behinderte auf die Bühne brachte. Seine künstlerische Containeraktion »Ausländer raus« (2000) mitten in Wien war eine Kritik am billigen Big-Brother Entertainment, vor allem aber am FPÖ-Rassismus. »Provokation«, sagte der Künstler 2008, als er schon an Krebs erkrankt war, rückblickend auf all seine Aktionen und Interventionen, »muss man schon Kindern beibringen: Es lohnt sich manchmal, in Gefahr oder mit einem gewissen Risiko zu handeln«. Ein lohnenswertes Risiko ist jedenfalls — auch beim Rundgang durch die Düsseldorfer Ausstellungsorte von Schlingensiefs Kunst — nicht immer zu verstehen. Das hätte er sicher sehr gut verstanden. Und dabei geschmunzelt.

Die Julia Stoschek Foundation zeigt das eingangs erwähnte Video mit Schlingensiefs Rundgangserläuterungen in einer Präsentation aus Sammlungsbeständen in ihrem Ausstellungsraum in Oberkassel. Der Ausstellungstitel »Message in the Bottle« bezieht sich im Übrigen auf ein Geschenk Christoph Schlingensiefs, eine kleine Wandarbeit mit eincollagiertem Briefcouvert, an die Düsseldorfer Sammlerin, die Aktionen des Künstlers förderte.

Im kleinen Kinosaal gibt es dort die beiden Filme »Affenführer« (2005) und »I want to destroy « (2005) zu sehen. Der erste zeigt zwei Rhesusaffen in Nazi-Uniform, wie sie auf einer bürokratischen Bürolandschaft herumlungern und ab und zu Porträtsfotos von Stalin, Honecker und Hitler an der Wand zum Wackeln bringen. Schlingensief performt mit blonder Perücke in dem zweiten, nicht minder satirischen Film und konjugiert lustvoll demokratiefeindlich: »Ich will das Parlament zerstören«. An Nam June Paiks Skulpturensprache erinnert der mit kleinen Videoscreens ausgestattete und als Sänfte konstruierte »Diana Altar« im Raum davor. Er war 2006 für die Londoner Kunstmesse FRIEZE gedacht und Teil einer Performance zu Ehren des US-Fluxuskünstlers und Erfinders des Happenings Alan Kaprow.

Letzterem widmet sich sodann die Ausstellung »Kaprow City« in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen am Grabbeplatz. Was dort dem Besucher aus dem Dunkel des großen Saals in K20 entgegenleuchtet und flimmert, ist die einzige noch erhaltene Installation aus skulpturalen, architektonischen sowie malerischen Elementen, mit der sich Schlingensief zugleich als Filmemacher, politischer Aktionskünstler, Theater- und Opernregisseur manifestiert. Da blinkt und tönt es, Filme laufen ab, einzelne Elemente bewegen sich unablässig in der gerümpelhaft anmutenden Architektur, die immer mal wieder Raum für Publikumsteilnahme vorstellbar macht. An anderer Stelle der K20-Präsentation dokumentieren mehrere Monitore und Screens Schlingensiefs Vorträge und Aktionen, lassen auch Kritiker zu Wort kommen, etwa zu dessen Ausstellung im Migros Museum Zürich (2007). »Kaprow City« (2006) war Schlingensiefs letztes Theaterstück für die Berliner Volksbühne.

Die Bedeutung des facettenreichen Künstlers für die nachfolgenden Generationen der Bildenden Kunst lässt sich etwa an den stets polarisierenden Aktionen des »Zentrums für Politische Schönheit« ablesen, doch ist das Künstlerkollektiv weit entfernt von den vielen Disziplinen, die Schlingensief simultan bediente. Das tat er auf hohem Niveau, etwa als Teilnehmer der globalen Kunstschauen in Kassel (1997) und Venedig (2003) und als Opernregisseur (2003-2007) mit seiner Inszenierung des »Parzival« in Bayreuth. Auf die Frage, ob er ein Bürgerschreck sei, antwortet Schlingensief: «Ja, ich habe es in mir. Ich bin bürgerlich. Der Bürger ist ein gutes Phänomen. Er will auf keinen Fall mehr Schmerzen aushalten müssen, als er jemand anderem zufügt«. Der Künstler sei für ihn ein »unter Beobachtung stehender Narr, der sich praktisch mit dem Normalbürger verbünden kann«.

Wem beim Düsseldorfer Rundgang auf den Spuren Schlingensiefs das prompte Eintauchen in dessen Kunst zu schwierig erscheint und lieber einer chronologischen Ordnung folgt, dem sei die Reihe »Christoph Schlingensief: Projek­tionen« im Filmmuseum in der Altstadt empfohlen. Dort zeigt Eckhard Kuchenbecker, als Filmtonmeister ein wichtiger Begleiter Schlingensiefs, neben Fotoarbeiten zu Film-und Theaterprojekten aus zwölf Jahren allerlei Archivmaterial, sogar eine Installation aus analogen Filmrollen. Hier tritt der junge Künstler auf, der sich als Kind schon den eigenen Kinosaal mit automatischem Vorhang im Keller des Elternhauses eingerichtet hatte. Sein filmisches Werk umfasst Spektakel versprechende Titel wie »100 Jahre Adolf Hitler — Die letzte Stunde im Führerbunker« (1989), »Das Deutsche Kettensägenmassaker« (1990) oder »United Trash« (1996). Die legendären Fassbinderschauspielerinnen Irm Hermann und Margit Carstensen, der zum Hollywoodfinsterling avancierte Udo Kier, der Nazijäger-Staatsanwalt Dietrich Kuhlbrodt sowie das Improvisationsgenie Helge Schneider zählen zu den Protagonisten der Schlingensiefschen Filmwelt.

Am Ende der Tour durch den verschlungenen Kosmos Christoph Schlingensiefs, dessen Name tatsächlich auf schlingernd verlaufende Rinnsale verweist, wird die Rückhaltlosigkeit und Weitsichtigkeit dieses Künstlers deutlich. So fraglos in seinem oppulenten Fluxus-Oratorium »Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir« (2008) auf der Ruhrtriennale, wo seine Erkrankung Teil der theatralischen Vorführung wurde — einmal mehr nach dem Diktum von Joseph Beuys »Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt…«.

Christoph Schlingensief. Kaprow City, K20 Kunstsammlung NRW, bis 17.10.

»Christoph Schlingensief: Message in a bottle«, ab 22.4., JSC Düsseldorf, Schanzenstr. 54, bis 19.12.

»Christoph Schlingensief: Projektionen«, Filmmuseum Düsseldorf, 24.4.–31.8.