Very outdated: Creep 2021

Zum Abhub degradiert

Thom Yorke (und andere) im Nachhall der Corona-Krise

Very — Sehr. Sehr gut, sehr geil, sehr nackt (wer nicht weiß, was das ist, war noch nie sehr nackt). Das Gradpartikel ist die wichtigste Vokabel, wenn es darum geht, ein Adjektiv zu steigern, ohne es in das Korsett der Trias Positiv-Komparativ-Superlativ zu quetschen. »Sehr« ist die Abkehr vom Vergleich, von der Konkurrenz. Man tritt nicht mehr gegen etwas an, sondern zeigt nur noch: Hier ist und geschieht etwas im bedeutenden Ausmaß.

»Very 2021 RMX«, so nennt Thom Yorke, immer noch Frontmann der inzwischen musealisierten »Besten Gruppe der Welt« (Musikexpress), seinen Remix des leider unsterblichen, großen Hits »Creep«. Der Titel verspricht eine Version des leidlichen Gassenhauers, die besonders 2021 sei. Wo die Jahreszahl aber zum Adjektiv mutiert, da lohnt es sich durchaus, genauer hinzuschauen. Was würde dieses Jahr, das sich immer noch mit Corona rumärgert und zeitgleich auch noch schwere Flutkatastrophen, Hitzeepisoden und Waldbrände erlebt, denn sonst so ausmachen? Große Unterschiede zum letzten Jahr gibt es nicht — abgesehen von EM-Regenbogen-Diskussion, Olympia-BlaBla, etlicher Wahlen und einer grundlegenden Erschöpfung. Aber reicht das allein zur Abgrenzung? Fangen wir jetzt tatsächlich schon Mitte des Jahres mit den Rückblicken an?

Wer aber, wie ich zum Beispiel, am Ende des Jahres kaum in der Lage ist, ein Resümee zu ziehen und schon zu Zeiten von Intro stets mehrfach zum Chart-Listen schreiben aufgefordert werden musste, der schafft das erst recht nicht nach der Hälfte der Zeit. Man muss ja gar nicht groß auffahren und in Frage stellen, ob die sporthafte Positionierung von Musiktiteln auf einer Rangliste überhaupt die Aufgabe der Kritik sein sollte. Es reicht schließlich, wenn man darauf verweist, dass große Musik manchmal auch Zeit braucht um (nach-)zuwirken. »Creep« hingegen brauchte gar nicht so lange zum Zünden. Da war Anno 1992 schon schnell klar, dass die Generation X, wie man die jungen Leute damals nannte, sich im Zweifel einfach creepig und fehl am Platze fand: Was zum Teufel mache ich hier? Sicherheit war etwas für Spießer und Konformisten, und nicht wie heute für den gesamten deutschen Pop-Kosmos.

Thom Yorke ist weder Spießer noch Konformist. Er trägt gerne mal einen teuren Hut und V-Neck-T-Shirts vom American Apparel, was vor allen Dingen bei Männern Ü40 ein untrügliches Zeichen für Geschmack und Widerständigkeit, für Jugendlichkeit und Coolness ist. Thom Yorke tanzt dazu gerne unbeholfen. Er ist einfach Täter und Opfer des eigenen Erfolgs. Kein Wunder, dass er das lebende Stimmungsbarometer ist. Er entscheidet: Das hier ist Very 2021! Und das hier ist Very Outdated.

Darüber hinaus lohnt es sich zu betonen, dass Radiohead schon vor 20 Jahren aufhörten »Creep« überhaupt noch live zu spielen. Die Abscheu gegen das eigene Stück wurde zum Leitmotiv der Band: Nie wieder so werden, wie zu Creep-Zeiten. Stattdessen das immer Neue und Aufregende feiern. Heute ist dieser Eid auf die Innovation nichts mehr wert.

Fairerweise muss man hinzufügen, dass man Yorke den Titel und den Remix mehr oder weniger aufgezwungen hat. Es handelt sich nämlich hierbei um eine Auftragsarbeit für den Boss des Modelabels Undercover, Jun Takahashi. Dessen Kollektion für die diesjährige Fashion Week in Tokio hieß »Creep Very«, und Yorke lieferte den Soundtrack. Ist so ein lust- und stilloser Remix derweil nur ein Symptom einer pandemiebedingten Flaute?

Der Siegener Professor Thomas Hecken kommt in der letzten Ausgabe des Magazins POP zunächst zu einem anderen Befund: »Das Jahr 2020 war eine sehr gute Zeit für Popmusik.« Er führt aus, dass in Zeiten, in denen durch Lockdownmaßnahmen Ticketerlöse wegfielen, der »Zwang […], mit der Veröffentlichung von Stücken Geld zu verdienen« zu einer Offensive am Markt geführt habe. Es hieß also, seit dem letztjährigen März zahlreiche Musikveröffentlichungen in die verschiedenen Kanäle zu feuern.

Der Pferdefuß ist offensichtlich und wurde an dieser Stelle schon am Beispiel des Bandcamp Fridays beleuchtet: Ein unbegrenztes Angebot trifft eben nicht auf unbegrenzte Mittel bei der Käuferschaft. Ohne Konzerte und in heftiger Konkurrenz auf dem dicht be­stücktem Veröffentlichungsmarkt wurde es für viele Musiker:innen zum Monatsende schnell mal eng. Da halfen hierzulande etliche Programme nur sporadisch über die Runden, anderswo, etwa in den USA, gab es so etwas wie Künstler:innen-Unterstützung wenn überhaupt im marginalen Umfang.

Dementsprechend wird man Heckens Satz erweitern müssen: Es war zwar eine sehr gute Zeit für die Popmusik, aber nicht unbedingt für Popmusiker:innen. Ein Thom Yorke braucht sich natürlich keine Sorgen machen, er hat ausgesorgt. Trotzdem passt es ins Bild, dass man sich zu Kooperationen oder Karrieremoves hinreissen lässt, die mit althergebrachter Integrität — oder positiver: überkommenen Dogmen — wenig am Hut hat. Das muss man sich in dem Fall entweder gut bezahlen lassen, was bei »Very 2021 RMX« und der zahlungskräftigen Mode-Industrie sicher geschehen ist, oder einfach leisten können.

Wo nämlich das einstige Hauptprodukt der Popmusik, der Song, nur noch zum Abhub degradiert wird, da wird es womöglich schnell still. Hoffen wir mal, dass das kein Trend wird, den wir schon nächstes Jahr als »Very 2022« bezeichnen müssen.

Thom Yorke feat Radiohead, »Creep (Very 2021 RMX)«, XL Recordings / Beggars, bereits erschienen