»Freiheit ist keine westliche Sache«

Für den Spielfilm »Baghdad in my Shadow« brechen Crew und Ensemble irakische Tabus

Die Diktatur Saddams, der durch die US-Invasion ausgelöste Bürgerkrieg und die Barbarei des IS haben einen nicht abreißenden Strom von Flüchtlingen hervorgebracht: Vier bis fünf Millionen Iraker*innen leben inzwischen in Exil und Diaspora. In dem deutsch-schweizerischen Spielfilm »Baghdad in my Shadow« verfolgt der Filmemacher Samir mehrere dieser Einzelschicksale in England, wo mehr als eine halbe Million Exil-Iraker*innen leben. Der gescheiterte Schriftsteller Taufik, die Architektin Amal, der schwule IT-Spezialist Muhanad, der fanatisch-religiöse Nassir — im Londoner Café Abu Nawas kreuzen sich ihre Wege.

Auch bei der Besetzung mischen sich Generationen, Altersgruppen und Ethnien: Es gibt im Exil lebende, im Ausland geborene, im Irak wohnende und arbeitende Iraker*innen. Da ist der in Wales aufgewachsene Waseem Abbas, der nie im Irak war und im Mitwirken am Film auch eine Chance sieht, seine Wurzeln zu erkunden: »Du willst in diese neue Kultur hineinpassen und verschließt einen Teil deiner ursprünglichen Identität. Das aber isoliert dich, und das ist auch mir beim Heranwachsen passiert. Deshalb nutze ich das Schauspielen, um mit allen Teilen von mir in Kontakt zu treten.« 

Zahraa Ghandour floh 2004 nach Syrien und Libanon, wo sie Sozialreportagen drehte. 2012 kehrte sie in den Irak zurück und übernahm in Bagdad eine Fernsehshow. Nach der aufreibenden Darstellung einer Selbstmordattentäterin fand sie sich dann in »Baghdad in my Shadow« von der Rolle der Amal angezogen, die ihr Land verlässt, sich von ihrem Mann trennt und in einen Briten verliebt.

Eine ältere Generation vertritt Haytham Abdulrazaq. Der bekannte Theaterschauspieler hat in Bagdad alles stehen und liegen gelassen und in Windeseile Englisch gelernt, um bei diesem Projekt dabei zu sein. »Eine sehr wichtige Sache — wir können normalerweise nicht über Homosexuelle reden, und auch nicht über Religion! Und daran möchte ich mit diesem Film arbeiten. Denn Künstler*innen haben immer über drei Dinge gesprochen: Religion, Politik und Sex!«

Gedreht wurde auch im Irak. Dass Bagdad eine flächendeckende »No-Go-Area« sei, relativiert Filmemacher Samir als Angstphantasie des Westens. Im Irak trifft der Terror zumeist die Armen, die sich nicht zurückziehen können, oder die Gläubigen, die sich freitags vor der schiitischen Moschee versammeln. »Man kann in Bagdad durchaus auch ein normales Leben führen. Du gehst in Cafés, triffst Freunde — und du findest ein Appartment, wo verrückte Künstler*innen Partys schmeißen. Aber der normale Alltag ist kompliziert, überhaupt nicht organisiert.«  Wenn man die Regeln kennt, funktioniert alles. Und so wird »Bagdhad in my Shadow« mit Genehmigung des Kulturministeriums gedreht, das nicht jedes Detail zu kennen braucht. Ein überlebensgroßes Saddam-Poster aus einer Szene, die in den 1990er Jahren spielt, wurde nachträglich als Computergrafik auf die Hausfassade gelegt.

Während des Bürgerkriegs konnte man neue Räume besetzen. »Kultur interessierte die Regierung überhaupt nicht« sagt Abdulrazaq, der im Fernsehen schon mafiöse Parlamentarier gespielt hat. Der Irak hat Dutzende offizielle Sender, jede Miliz ein eigenes Programm. Nur eine Kinoindustrie gibt es nicht. Es fehlt an Produzent*innen. Die alten Kinos sind zerstört, ein Multiplex in einer Shopping Mall zeigt Hollywoodfilme, die auf die genannten Tabus hin kontrolliert werden. Auch Samirs dokumentarisches Diaspora-Epos »Iraqi Odyssey« war dort zu sehen, doch normalerweise laufen anspruchsvolle Filme eher in Kulturzentren — irgendwo findet man alles. Samirs Filme etwa gibt es auf dem Schwarzmarkt. Soziale Netzwerke und das Internet sind die zentralen Ausweichmedien einer neuen, jungen Kulturszene.

Zahraa Ghandour berichtet, dass 2003 viele junge Leute fortgingen. »Aber später kamen sie wieder zurück und brachten eine Menge Ideen mit. Jetzt gibt es eine Kunst- und Kurzfilmszene, das Internet ist die größte Verbindungsmöglichkeit, weil das Reisen schwierig ist, und im Irak selbst bleibt man an den sicheren Orten.« Sie betont den gegenseitigen Support in der Kulturszene — weil alle ihr Wissen teilen, gibt es vieles gratis, was andernorts teuer ist. Ohne eine geregelte staatliche Unterstützung ist auch die Zensur nicht so systematisch wie etwa im Iran. Doch die Extremisten wissen auch, wie sie einen kreativen Impuls durch unzählige Genehmigungen lahmlegen können. Da die islamistischen Gruppierungen im Süden mächtiger sind, und weil der Grenzübertritt zum freieren Kurdistan einer schikanösen Visapolitik unterliegt, bleibt Bagdad mit seinen vielen Festivals das kulturelle Zentrum des Irak. Nun wagt Ghandour den ersten Filmkuss des irakischen Kinos: »Amal zu spielen ist eine Ehre für mich, die im Irak lebt. Die Figur ähnelt mir, weil sie einmal ganz klar »Nein!« sagt, was ich auch machen musste, um Amal spielen zu können.« 

Ghandour war zunächst von der Rolle zurückgetreten. Ihre Familie hatte Angst vor dem Klatsch der Nachbarschaft, dem Verlust von Ehre und Ansehen. Auch wenn alle das Kino und die Stars der ägyptischen Klassiker verehren, gilt eine Schauspielerin immer noch als »unseriös«. Ghandour kehrte zum Team zurück in der Hoffnung, dass ihre Familie lernt, stolz auf sie zu sein. »Freiheit ist keine westliche Sache, sie sollte für alle da sein.« In welchen arabischen Kinos wird »Baghdad in my Shadow« laufen? Samir berichtet über seine Besuche bei den sonst so offenen Filmfestivals der Golfstaaten: »Als ich wegen der Filmfinanzierung in Dubai, Abu Dhabi und Doha war, lasen sie das Drehbuch, sahen mich dann an und fragten: ›Bist du verrückt, uns wegen so was zu fragen!? — Ach, aber übrigens, wenn du es fertigbekommst, dann wollen wir es zeigen!‹«

»Baghdad in my Shadow«, CH/D/GB 2019, R: Samir; D: Haytham Abdulrazaq, Zahraa Ghandour, Waseem Abbas

 

Samir

In seinen Dokumentarfilmen »Forget Baghdad« (2004) und »Iraqi Odyssey« (2014) erzählte der Schweiz-Iraker Samir kunstvoll vom Exil seiner über den Globus verstreuten Familie, und verwebte die Historie des Iraks, das Schicksal der Juden von Bagdad sowie die Situation vor und nach dem Sturz von Saddam Hussein miteinander. Der aktuelle Spielfilm »Baghdad in my Shadow« entstand in Bagdad, London und Köln-Ossendorf. Während des dortigen Drehs der Innenaufnahmen aus dem Café »Abu Nuwas« wurden auch die Interviews zu diesem Artikel geführt.