Einsame Identität: Ayelet Gundar-Goshen, Foto: Tal Shahar

Angst, Zerrissenheit und ein Todesfall

Ayelet Gundar-Goshen hat ein amerikanisch-­israelisches Gesellschaftsdrama geschrieben

»Kennen Sie Ihren Sohn, Lila?« Wie jede Mutter glaubt Lila die Antwort zu wissen, doch gerät sie bei der Frage jener Mutter ins Zweifeln, deren Sohn unter fraglichen Umständen gestorben ist und an dessen Tod ausgerechnet ihr eigener Junge die Schuld tragen soll. Die israelische Autorin und Psychologin Ayelet Gundar-Goshen ergründet auch mit ihrem neuen Roman »Wo der Wolf lauert« die Tiefen der menschlichen Psyche, beschreibt nicht nur die Ängste einer verzweifelten Mutter, sondern auch die innere Zerrissenheit einer Frau, die ihre eigene Identität abgelegt hat.

Denn Lilach Schuster — genannt Lila, da die amerikanischen Bekann­ten ihren hebräischen Namen nicht aussprechen können — war eine aufstrebende Wissenschaftlerin, bevor sie mit ihrem Mann Michael aus ihrer Heimat Israel geflohen ist. Im kalifornischen Silicon Valley brachte sie den gemeinsamen Sohn Adam zur Welt und tauschte ihre akademische Karriere gegen das Familienleben ein. Dort führt sie eine vermeintlich sichere Existenz — bis ihre Gemeinde eines Tages durch ein Attentat auf die jüdische Synagoge und kurze Zeit später durch den Tod eines Jungen aus Adams Schule erschüttert wird. »Vielleicht hatten wir gemeint, Adam vor dem israelischen Irrsinn zu bewahren, ihn tatsächlich aber einem anderen Irrsinn ausgesetzt.«

Gundar-Goshen führt in ihrem Roman zwei Lebensrealitäten zusammen, die sich äußerlich zwar unterscheiden, in einem aber einen: dem Mutter-Sein. Denn Jamal Jones, an dessen Tod Adam schuld sein soll, war der Sohn einer afroamerikanischen Mutter. Den Gerüchten um eine mögliche Überdosis und der Zugehörigkeit zur Nation of Islam tritt sie vehement entgegen. Und auch Lilach verteidigt ihren Sohn bedingungslos gegen die antisemitischen Anfeindungen, selbst nachdem Adam sich durch die Teilnahme an einem Selbstverteidigungskurs zu verändern beginnt. Beide Mütter erfahren, was es bedeutet, wenn das eigene Kind gesellschaftlich stigmatisiert wird, und müssen zugleich schmerzhaft feststellen, dass sich die Unschuldsvermutung gegenüber ihren Söhnen nicht immer aufrechterhalten lässt. Und so beginnt Lilach, entgegen aller Widerstände, selbst zu ermitteln, findet heraus, dass Adam von Jamal gemobbt wurde und macht besorgniserregende Beobachtungen von Adams Kursleiter Uri.

Beeindruckend nachfühlend entwirft Gundar-Goshen ein psychologisches Drama über Mutterschaft und Identität, gesellschaftliche Vorurteile und Schuld. »Wo der Wolf lauert« ist in diesem Sinne auch ein sehr politisches Buch.

Ayelet Gundar-Goshen: »Wo der Wolf lauert«, Kein & Aber, 352 Seiten, 25 Euro