Gleichberechtigt gegen Hierarchien

Gedanken zur Neuen Improvisierten Musik — ein Gastbeitrag von Joachim Zoepf

Seit anderthalb Jahren haben wir vermehrt über Jazz und Improvisierte Musik aus Köln berichtet. Das hat durchaus mit der Corona-Krise zu tun, die der Indie- und Club-Kultur den Saft abgedreht hat, wodurch, Glück im Unglück, andere Musiken mehr Platz bekamen. Aber auch unabhängig von Corona hat sich in den letzten zehn Jahren in Köln, nach langen Jahren der Flaute, eine junge Jazz- und Improvisationsszene herausgebildet, die wieder international Beachtung erfährt. Der Saxofonist Joachim Zoepf, Jg. 1955, kam einst aus dieser Szene, vor vierzig Jahren war er u.a. Mitglied der Kölner Saxofon Mafia. Seitdem ist er musikalisch immer unabhängiger geworden und hat sich ganz einer radikalen Ästhetik der Improvisation verschrieben. Sie ist für ihn auch ein politisches Statement, weil sie sich aller Verwertbarkeit entzieht. Wir haben Joachim deshalb eingeladen, einige grundlegende Gedanken seiner Ästhetik aufzuschreiben. Heute lebt und arbeitet er in Erftstadt, über seine aktuellen Projekte informiert er auf newimprovisedmusic.com (FK)

Mit diesem Essay über »Neue Improvisierte Musik« (NIM) wird der Versuch unternommen, diese Stilrichtung angemessen im Kontext zeitgenössischer Kunstmusik einzuordnen. Vor zwanzig Jahren veranstalteten wir in Köln das Symposium »Improvisierte Musik«, seitdem hat sich die öffentliche Wahrnehmung der NIM nur wenig verändert. Auch heute noch trifft die Feststellung, die Wolfgang Schliemann und ich damals in einem »Manifest« getroffen haben, zu: »Viele Missverständnisse und absichtsvolle Ungenauigkeiten beherrschen den Diskurs.«

Bevor ich deshalb auf die musikalischen Merkmale der NIM eingehe, skizziere ich die Entstehungsgeschichte. Drei Hauptquellen sind für ihre Entwicklung maßgeblich: die Neue Musik (freie Mischung der Klangfarben, Abkehr von der Dur/Moll-Tonalität, Einbindung von Geräuschen); die Elektroakustische  Musik (Erschließung neue Klangmöglichkeiten); der Free Jazz (Kollektivimprovisation und nichtakademische Ästhetik). Anregungen kamen auch aus anderen Kunst- und Musikbereichen wie Klangkunst, Noise oder Fluxus.

Eine Gegenbewegung zur seriellen Kompositionsweise der 50er Jahre — die durch ihre formale Strenge die Interpretationsfreiheit der Musiker*innen stark einschränkte — führte in der Neuen Musik zunächst zu aleatorischen (John Cage, 1951) und graphischen (Earl Brown, 1952) Kompositionstechniken. Das erste, längere Zeit bestehende Improvisationsensemble aus der Neuen Musik war die »Gruppo di Improvvisazione  Nuova Consonanza«. Sie wurde 1964 von Franco Evangelisti in Italien gegründet und bestand bis 1975. Ihr Ziel war es nicht, freie Improvisationsformen zu entwickeln, sondern abgesprochene Konzeptionen miteinander zur Aufführung zu bringen. Einen anderen Ansatz verfolgte das 1966 von Alvin Curran, Richard Teitelbaum, Frederic Rzewski, Allan Bryant und anderen gegründete elektroakustische Live-Ensemble »Musica Elettronica Viva« (MEV). Sie wollten in die elektronische Musik Elemente der Improvisation einführen und in Echtzeit aufführen.

Ähnlich wie in der Neuen Musik kam es auch in der afroamerikanischen Musik zu einer Neuorientierung. Aus dem Bebop (Charlie Parker), später dem Hard Bop (Art Blakey), entwickelte sich über die harmonisch ungebundenere Spielweise des modalen Jazz (Miles Davis) Anfang der 60er Jahre der Free Jazz. Die zunächst noch freie melodische Spielweise — »Harmolodics« —  eines Ornette Colemans wich dem ekstatischen Powerplay eines John Coltrane. Mit AMM entstand 1966 ein erstes britisches Improvisationsensemble, das auch heute noch aktiv musiziert. Es wurde von den Kunststudenten und Jazzmusikern Lou Gare, Eddie Prévost, Keith Rowe ins Leben gerufen und später durch andere Musiker und Komponisten erweitert. Die Auftritte dieses  Ensemble werden weder geplant — es finden keine Proben statt —, noch die Ergebnisse gemeinsam analysiert. Um jedoch einer formalen Beliebigkeit zu entgehen und das Ausbilden von Routinen zu vermeiden, spielen sie nur selten zusammen. Auch in der BRD versuchten sich damals Musiker wie Alexander von Schlippenbach, Peter Kowald, Peter Brötzmann oder Günter Christmann vom amerikanischen Free Jazz zu lösen, blieben ihm aber zunächst  weitgehend, wenn auch in einer europäischen »schrofferen« Variante, verhaftet.

Einer der Ersten, dem es gelang sich vollständig von (Jazz-)Konventionen zu befreien, war dann Christmann. Der Posaunist und Cellist brachte in den 70er Jahren eine eigenständige frei improvisierte Musiksprache hervor, die sich sowohl vom pulsierenden Free Jazz, als auch von der flächigem »post-seriellen« Spielweise von AMM und MEV unterschied. Die Musik Anton Weberns war für ihn, wie später auch für viele andere Vertreter der NIM, ein gewichtiger Einflussfaktor. So spricht er 1981 in einem Interview mit dem Journalisten Bert Noglik über »die Verbindlichkeit von Musik — etwas, was so klar wie bei Webern, meines Erachtens nirgendwo vorhanden ist (…). Auch ich möchte, soweit ich es vermag, nur notwendige Töne hervorbringen. Insofern ist die Erfahrung der Musik Weberns für mich ein enormer Glückfall.«

Derzeit sind wir bei der dritten Generation von Improvisationsmusiker*innen angelangt, die aus den unterschiedlichsten Musik-  und Kunstbereichen schöpfen. Wendet man nun den Blick auf die Wesenszüge der NIM, fällt auf, dass keine hierarchische Trennung von Interpret*innen und Komponist*innen vorhanden ist. Alle Akteur*innen erfüllen gleichberechtigt alle Funktionen; sie sind die Interpret*innen ihrer in Echtzeit geschaffenen Kollektivkomposition. Diese wird nicht schriftlich fixiert. Ihr primäres Ziel ist nicht die Reproduktion des musikalischen Geschehens. Somit ist eine Tonaufnahme eher ein eigenständiges Kunstwerk — eine im Nachhinein bearbeitete Auswahl des Geschehens. Auch wandelt sich der unmittelbare und interaktive Genuss des Hörens bei Wiederholung in ein analytisches Erforschen.

Aus kognitionspsychologischer Sicht laufen beim Komponieren und Improvisieren die gleichen Prozesse ab, da sie kontinuierliche Evaluation erfordern: wiederholen, verwerfen, weiterentwickeln. Der Unterschied liegt eher in den zeitlichen Voraussetzungen — Improvisation vollzieht sich »online«, ­während Komposition »offline« geschieht. Eine andere Eigenschaft der NIM ist ihre Rauheit; sie strebt eben keine Perfektion an, sondern will mittels Kreativität Neuland betreten. Zur Form von NIM führt der Musikwissenschaftler Kai Lothwesen aus: »Musikalische Improvisation besitzt eigene Formungsprinzipien. Sie folgt nicht den ›klassischen‹ Formschemata der Kunstmusik, sie ist nicht teleologisch, d.h. auf einen durch vorgezeichnete Entwicklungen erreichten Endzustand gerichtet, sondern bewegt sich im Gegenwärtigen, im Moment des Spiels. Formbezogene Entscheidungen ergeben sich aus dem Spielprozess, durch Interaktion mit anderen (Musiker, Publikum) oder mit sich selbst (›Fehlerkorrektur‹) oder dem Instrument (instrumentenspezifische Spielweisen).« Daraus ergibt sich das Fehlen eines vorgegebenen Werkcharakters — das Werk entsteht erst im Prozess.

Eine pulsartige Spielweise wie im Free Jazz wird nicht verwendet, es existieren auch keine vorgegebenen Improvisationsregeln wie in der afroamerikanischen Tradition. Vielmehr kann von einer individuellen Idiomatik gesprochen werden, alle Mitwirkenden erzeugen ihre eigene Musiksprache. Zum Wesen der freien Improvisation schreibt Elke Schipper, die seit Jahrzehnten eng mit Günther Christmann kooperiert, in ihrem Essay »Ins Offene« treffend: »Frei improvisierte Musik verläuft nicht monokausal, linear, als Eins aus dem Anderen; sie läuft in einer Verspannung polyvalenter, multiintentionaler und multifunktionaler Prozesse. Das Entgrenzen auf Neues hin ohne Selbstauflösung liegt bei dieser Musik in einer Art innewohnendem Prinzip der Provokation von Grenzzwischenfällen, dazu angezettelt neuen Boden zu gewinnen. Das zentrale Merkmal musikalischen Gelingens freier Improvisation liegt in der musikalischen Störung. Im Stören eines wohlgefälligen Funktionierens (…) Freie Improvisation ist kein Experiment, aber in dieser Instanz der Störung liegt ihr experimenteller Zug, mit dem sie ihre Arbeitsweise immer wieder auf ihr innovatives Potential überprüft.«

So unterschiedlich die Resultate der NIM ausfallen können, so verschieden sind auch die eingesetzten Instrumente bzw. Klang- und Geräuscherzeuger. Konventionelle Instrumente werden durch erweiterte Techniken oder Präparationen weit über ihre angestammte Verwendung hinaus ausgelotet. Ebenso können selbstgebaute In­strumente, elektronische Instrumente, Spielsachen, Haushaltsgeräte, Maschinen aller Art, Alltagsgegenstände zur Entwicklung eingesetzt werden — bis hin zu einer reinen Geräuschmusik. Dazu merkt Elke Schipper an: »Das Instrument muss in die eigene Vitalität eingebunden werden. Das färbt den Klang dieser Musik organisch — (der hörbare Atem in vielen Spielweisen ist auffallend) — und prägt die Musik physisch-motorisch.«

Der Gruppenprozess der NIM ist geprägt von dialektischer Wechselwirkung der Impulse zwischen den Individuen und dem Kollektiv. Innerhalb des Kollektivs vollzieht sich die eigene Freiheit durch die soziale. Gerade dieser Austausch führt zu Einfällen des Einzelnen, die ohne die Anderen nicht denkbar wären. Bert Noglik betrachtete deshalb »»Improvisation als kulturelle Herausforderung«: »Sich selbst einzubringen wird nicht nur möglich, sondern geradezu notwendig; sich musikalisch zu anderen in Bezug setzen, lässt Eigenes im Kommunikationsprozess erlebbar werden, so dass Individualität sowohl in ihrer Besonderheit als auch in ihrer sozialen Bezogenheit aufzuleuchten vermag. Improvisation bedingt und befördert eine im kollektiven und sozialen Umfeld verankerte Musizierhaltung.«

Wie in dem eingangs erwähnten Manifest formuliert, erfordert diese musikalische Praxis einen eigenen Gattungsbegriff. »Dieser muss deutlichen machen«, schrieben wir vor zwanzig Jahren, »dass es sich hierbei um Musik handelt, der zwar dieselben universellen Parameter zugrunde liegen wie aller Musik, die aber wegen ihrer grundlegend anderen Entstehungs- und Wirkungsgeschichte eben auch nach grundsätzlich anderen Kriterien beurteilt zu werden verdient.« Eben: Neue Improvisierte Musik.