»I’ll be gone in a day or two«: »Der Zauberberg« im Theater der Keller, Foto: Niklas Berg

Lob der Passivität

Im Theater der Keller inszeniert Charlotte Sprenger den »Zauberberg« radikal gestrafft

Auf dem Schlachtfeld taumeln die tumben Helden. In seidenen Negligés, fünftausend Fuß hoch in den Schweizer Alpen, fallen sie dem Schattenreich Odysseus entgegen. So beginnt »Der Zauberberg« auf dieser Bühne. Dunkel liegt sie da, nur ein hell erleuchteter Lindenbaum in der Mitte spendet den herum liegenden Leibern Licht. War es nicht dieses Lied, das Hans Castorp summte, als er sich am Ende der »ausgedehnten short story« (Thomas Mann) durch das Gefecht des Ersten Weltkrieges schleppte? »Am Brunnen vor dem Thore, da steht ein Lindenbaum...«

Doch von vorne: Während der vergangenen Monate »raschelte« der Zauberberg durch viele Drama­turg*innen. So beschrieb es der Regisseur Sebastian Hartmann, der den Klassiker von Thomas Mann im vergangenen Winter ins Deutsche Theater in Berlin — oder besser gesagt: in den Livestream — brachte. Überdeutlich schienen die Parallelen eines Lungenkranken in der Isolation, während um ihn herum die Gesellschaft zerfällt. Doch  Regisseurin Charlotte Sprenger, geboren 1990 in Hamburg und ­Mitbegründerin des »Britney X«-Festivals am Kölner Offenbachplatz, wählt für ihre Inszenierung am Theater der Keller einen anderen Zugang: Sie interpretiert den Stoff neu, auf sehr lustige, sehr kluge Weise.

Zumindest letzteres ist, man kann es so sagen, ihr Markenzeichen, 2020 am Theater in Linz unter Beweis gestellt, wo sie Elfriede

Jelineks Fortschreibung von Ibsens »Nora« als dystopisches Spiel mit Stanley-Kubrick-Anleihen auf die Bühne brachte. Auch »Der Zauberberg« wird unter Sprengers Regie deutlich gekürzt. Viel Text hört man von den sieben Schauspiel­er*innen im Theater der Keller nicht und auch das seitenlange ­Sinnieren von Hans Castorp über die Zeit als »ausdehnungslose Gegenwart« bleibt dem Publikum erspart. Zentrale Motive greift Sprenger ohnehin lieber plastisch auf, etwa wenn sie einen Kellner (Frank Casali) nach einer eiligen Bestellung im Schneckentempo durch den Raum schleichen lässt, man kennt es.

Auch Hans Castorp ist bei ihr kein argloser Hans im Glück, der durch seine »sieben Märchenjahre der Verzauberung« (Thomas Mann) stolpert, dort oben im Lungensanatorium im Davos, mitsamt seinen Liegekuren, Seelenzergliederungen und »Innenporträts« reicher Schönheiten, die doch bloß Röntgenaufnahmen sind. Sprenger zeigt ihn vielmehr als modernen Bartleby. Überwiegend stumm, aber ausdruckstark gespielt von Josa Butschkau, verweigert er alles Handeln und widersetzt sich damit auch der Heilsvorsteherin Adriatica von Mylendonk (Brit Purwin). E-Zigarette paffend und immer die Sonnenbrille auf der Nase, scharrt sie die Patient*innen um sich, sagt ihnen, sie sollen sich beim Sterben nicht so anstellen und leitet sie bei einer Cover-Version von »Take on me« an: »I’ll be gone in a day or two« singen die Tuberkulosekranken in Davos und selbst diese Szene ist durchdrungen von der Aura der Frivolität. Ad absurdum führt am Ende Hans Castorp selbst diese Welt, als er seine Entlassung aus dem Sanatorium mit der Melville’schen Ruhmesformel

»Ich möchte lieber nicht« pariert.

Sprenger landet damit einen grandiosen Coup, meint man doch gerade in dieser Schlüsselszene

die Antwort auf die seit Jahrzehnten kontrovers diskutierte Frage

zu erahnen, die das Stück im Ankündigungsstext zu untersuchen verspricht: Lässt sich Hans Castorp vom Tod verführen oder siegt die Lust am Leben?

Nun, nichts dergleichen, denn bei Sprenger tut Hans Castorp gerade eben nichts. Er kollaboriert nicht mit der Sinnökonomie des Sanatoriums und auch nicht mit der des Krieges, auf den man sich auch dort oben in Davos vorbereitet. Seine Passivität wird zum Widerstand, indem er dem performativen Sprechtakt von Adriatica von Mylendonk, also seine Entlassung, die Macht entzieht und das Gesagte in die Schwebe des »lieber etwas anderes« versetzt.

Viel gelacht wird in diesem Stück, so entlarvend-komisch sind die erotischen Versuche der »heißen Katze« Clawdia Chauchat (Kara Schröder), wenn sie als Aktmodell barbußige Verrenkungen macht und damit nicht sich, sondern den männlichen Blick der Lächerlichkeit preisgibt. Dem Streichstift zum Opfer gefallen sind bei Sprenger bedauerlicherweise viele homoerotischen Neckereien des Romans, etwa die Stelle mit dem Stift, den Hans Castorp von einem Freund geliehen bekommt, »mit einem Ring, den man aufwärts schieben musste, damit der rot gefärbte Stift aus der Metallhülse wachse«.

Auf der Bühne konzentriert man sich statt dessen lieber auf die Scherze mit den spirituellen Figuren des Romans, und schon fühlt man sich mit Hans Castorp sehr verbunden, wenn man den philosophischen Stellen bei der Lektüre des Romans intellektuell ebenso wenig folgen konnte, wie die Figur auf der Bühne: Settembrini oder Naptha, sie sind hier ein und dieselbe Person, philosophieren herum, doch ihre Sätze kommen ins Stocken, brechen gerade an den entscheidenden Stellen ab und verlieren jeden Sinn. Kurzum, man kann dem Theaterhaus nur wünschen, dass es Charlotte Sprenger geht wie Hans Castorp: dass sie lange bleibt.

Theater der Keller, 5. & 6.10., 20 Uhr