Das Leben der anderen: »A Mile In My Shoes« auf dem Ebertplatz, Foto: Sommerblut

In fremden Schuhen

»A Mile In My Shoes« beim Sommerblut

»Lauf eine Meile in seinen Schuhen« lautet die sprichwörtliche Aufforderung, wenn man sich anschickt, die Geschichte eines Menschen zu verstehen und keine vorschnelle Urteile über ihn zu fällen. Die aus London stammende Künstlerin Clare Patey hat diesen Satz wörtlich und als Inspiration für eine ungewöhnliche Ausstellung genommen: Am Ebertplatz steht, gleich neben dem Brunnen, ein überdimensionierter, begehbarer Schuhkarton. Sicher nicht das Seltsamste, was je am Ebertplatz passiert ist, aber es fällt ins Auge.

In dem Raum befinden sich: MP3-Player, Kopfhörer und Schuhe. Zahlreiche Paare stapeln sich in den Regalen, bereit, den Träger für die nächsten Minuten ein Gefühl für die Lebensrealität ihrer Vorbesitzer zu geben. Denn »A Mile In My Shoes« ist eine interaktive Kunstaktion im Rahmen des Sommerblut Festivals, bei der die Gäste in fremde Schuhe schlüpfen.

Via Audio werden in etwa zehnminütigen Sequenzen die selbst eingesprochene Geschichten der vormaligen Eigentümer abgespielt: eine Hobbymalerin mit Borderline-Syndrom, die Mutter eines Trans Jungen oder ein blinder Geflüchteter aus dem Iran, der die Welt an­hand von Geräuschen wahrnimmt und die An- oder Abwesenheit von Dingen riechen kann. So unterschiedliche wie die Erzählungen sind die Schuhe: Quietschgrüne Ballerinas, abgelaufene Boots oder gepflegte Sandalen mit Keilabsatz, die augenscheinlich nicht zu ihren neuen Träger*innen passen und sie etwas unbeholfen über den Platz stolpern lassen. Doch wer hören und verstehen will, muss fühlen. Der Perspektivenwechsel ist ein zentrales Element in Clare Pateys Arbeit. Mit ihrem Projekt »Empathy Museum« thematisiert sie ihn in verschiedenen Ausstellungen immer wieder: eine Reisebibliothek, die geliebte Bücher in unbekannte Hände gibt, ein Geschichtenverleih, bei dem man sich Menschen für ein Gespräch ausleihen kann oder Portraits über Angestellte im Gesundheitswesen, die von ihren Erfahrungen in der Pandemie berichten.

Und eben: »A Mile In My Shoes«. »Wie hat es sich angefühlt, die Schuhe zu tragen?«, heißt es auf dem kleinen Zettel, den man im Anschluss als Bericht ausfüllen und an eine Pinnwand hängen kann.

Im besten Sinne zwispältig: Es passt nicht an den Fuß und nicht zum eigenen Leben, man selbst ist andere Wege gegangen. Aber die Erfahrung aus Hören und Tragen macht das Erlebnis intensiv und spürbar, sie ermöglicht auf fremden Sohlen den Schritt über den eigenen Standpunkt hinaus.

Ebertplatz, bis 3.10., Mi-Fr, 15–19 Uhr, Sa & So, 13–19 Uhr