Schaut dem Tod ins Auge: Jasmin Schreiber, Foto: Jasmin Schreiber

Sterben kann man nicht skippen

In Jasmin Schreibers Roman »Der Mauersegler« will der Arzt Prometheus den besten Freund vor dem Sterben retten

Dass zum Leben das Sterben gehöre, das hätte Jasmin Schreiber gern vor ihrer Geburt gewusst. Doch wie alle Lebewesen wurde sie ungefragt in die Welt geworfen. Schreiber versucht, sich den Gegebenheiten unseres Daseins schreibend anzunähern. »Schreiben ist für mich auch Herausfinden.« Mit diesem wissenschaftlichen Habitus führt die studierte Biologin die Figuren ihrer Geschichten an die Grenzen des Zumutbaren: »Ich wollte halt ausprobieren, wie weit ich es treiben kann.« Prometheus, dem Protagonisten ihres neuen Romans »Der Mauersegler«, hat sie daher ein besonders schweres Schicksal auferlegt: Nicht nur muss er den Tod seines besten Freundes bewältigen, sondern sich auch für diesen Tod verantworten.

Der Fall des jungen Arztes Prometheus ist tief. Zwischen unbeschwerten Kindheitsmomenten mit seinem »superbesten« Freund Jakob und der überstürzten Flucht nach dessen Tod, erzählt Jasmin Schreiber vom Aufstieg und Absturz eines Überfliegers. Als Kind einer Arbeiterfamilie hat Prometheus es mit dem Medizinstudium gesellschaftlich nach oben geschafft. Er forscht an einer vielversprechenden Immuntherapie, bis Jakob schwer an Blasenkrebs erkrankt. Auf Drängen der Angehörigen nimmt Prometheus ihn in seine wissenschaftliche Studie auf. Doch nachdem diese nicht die Ergebnisse zeigt, die er erhofft hat, beginnt Prometheus nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Freund moralisch fragwürdige Entscheidungen zu treffen.

Den Umgang mit dem Tod thematisierte Jasmin Schreiber bereits in ihrem Debütroman »Marianengraben«, der es im vergangenen Jahr auch ohne Lesereise auf die Bestsellerlisten schaffte. Auch »Der Mauersegler« handelt vom Sterben, vor allem aber sei es ein Buch über tiefe Freundschaften und ethische Verantwortung: »Es geht sehr viel um Erwartungshaltungen, Schuld und Enttäuschungen.«

Mit dem göttlichen Namensgeber wird der Hauptfigur Prometheus, der mit Erstnamen eigentlich Marvin heißt, bereits die Bürde seines Daseins auferlegt. Als Retter von Menschenleben sind seine Fähigkeiten jedoch keine göttlichen, sondern begrenzen sich aufs Menschliche. »Gerade heutzutage ist Medizin oder wissenschaftlicher Fortschritt schon etwas, an das wir uns sehr klammern, sodass Sterben ja schon fast ein Versehen ist.« Das Problem seien aber nicht die wissenschaftlichen Errungenschaften, sondern das fehlende Verständnis dieser, das zu einem unterkühlten Verhältnis zum Sterben führe, sagt die 33-jährige Autorin: »Da ist eine große Leere, die wir nicht mit irgendwelchen Ritualen gefüllt haben.« Jasmin Schreiber selbst lernte den vielseitigen Umgang mit dem Tod durch ihr Ehrenamt als Sterbebegleiterin und Fotografin für Sternenkinder kennen. Bis 2019 berichtete sie darüber in ihrem Blog »Sterben üben«, zuletzt auch in ihrem Sachbuch »Abschied von Hermine«. Als Biologin sei sie ohnehin schon immer mit dem Tod konfrontiert gewesen, sagt Schreiber. Ihr eigener Blick auf das Sterben sei ganz pragmatisch: »Was soll man machen? Man kann es nicht skippen.«

Das Sterben lässt sich nicht vom Leben trennen, auch nicht von Schreibers literarischem Schaffen. Und doch haben ihre Geschichten auch etwas Versöhnliches, vor allem dann, wenn ihre jungen Protago­nist*innen auf die etwas verschrobenen Wegbegleiter*innen treffen. So strandet Prometheus auf seiner Flucht nach Dänemark bei dem älteren Ehepaar Helle und Aslaug, zwei Frauen, die Ponys züchten, weibliche Gottheiten verehren und in der Vergangenheit bereits selbst Schuld auf sich geladen haben. Auch Paula, die Heldin aus »Marianengraben«, verarbeitet die Trauer um ihren Bruder auf einem ungewöhnlichen Roadtrip mit dem kauzigen Senioren Helmut.

Bücher über junge Menschen zu schreiben, die in Berliner Agenturen arbeiten und Liebeskummer haben, habe sie nie interessiert, sagt Jasmin Schreiber. »Ich schreibe lieber über Sachen, die man wegdrängt. Das ist wie in der Biologie: Da habe ich mich immer für Insekten interessiert, das kleine Zeug, wo man genau hingucken muss. Das interessiert mich auch beim Schreiben.« Vielleicht lässt sich Schreibers privates Biotop somit auch als Umschlagplatz ihrer Erzählungen betrachten. Denn in ihrem Hamburger Zuhause lebt sie zusammen mit Gottesanbeterinnen, Asseln, Riesenschnecken, Fröschen, unzähligen weiteren Kleintieren sowie ihren zwei Hunden in einer Art tropischer Wohngemeinschaft.

Jasmin Schreiber nutzt die Natur auch als Mittel des Erzählens. Besonders dort, wo sie die Menschen aus Sicht der Wälder und Tiere beschreibt, lässt sich der Vergänglichkeit des Lebens auch Tröstliches abgewinnen. »Beim ›Mauersegler‹ ist es ja so, dass die Landschaft schon fast eine Protagonistin ist.« Nach dem Tod seines besten Freundes nähert sich Prometheus ihr mit rasanter Fallgeschwindigkeit, und damit auch seiner eigenen entfremdeten Natur — wie die Mauersegler, für die der Kontakt mit dem Boden etwas Außergewöhnliches ist. Jasmin Schreibers neuer Roman liest sich daher nicht, oder nicht nur, als eine Geschichte über Sterben und Schuld, sondern auch als eine Fürsprache zum Weiterleben und zur Akzeptanz der Unzulänglichkeiten des menschlichen Lebens. Denn »das Leben wird weitergehen. Die Frage ist halt: mit oder ohne uns?«

Jasmin Schreiber: »Der Mauersegler«. Eichborn, 240 Seiten, 22 Euro