Liebe nach wahren Begebenheiten

»Ammonite« von Francis Lee

Ohne melodramatische Klischees widmet sich Francis Lee der intimen Liebesgeschichte zweier Frauen

England Mitte des 19. Jahrhunderts. Mary Anning (Kate Winslet) hat sich in ein Dorf am Ärmelkanal zurückgezogen, resigniert von der männerdominierten Akademikerwelt in London, wo sie mit ihrer herausragenden Arbeit als autodidaktische Paläontologin aufgrund ihres Geschlechts und der fehlenden formalen Ausbildung nicht gewürdigt wurde. Inzwischen lebt sie in einfachsten Verhältnissen und hält sich und ihre alte, selbstsüchtige Mutter (Gemma Jones) mit einem kleinen Geschäft für Tourist*innen über Wasser, in dem sie Fossilien verkauft, die sie am Strand findet und perfekt restauriert. Die wertvolleren stiftet sie dem British Museum. Als der Geologe Roderick Murchison (James McArdle) auf der Durchreise mit seiner jungen Frau Charlotte (Saoirse Ronan) des finanziellen Engpasses Marys gewahr wird, sieht er seine Chance auf einen längeren Aufenthalt allein in Europa und beauftragt Mary, sich einige Wochen um seine Frau zu kümmern, die nach einer Fehlgeburt an Depressionen leidet. Aus der anfänglich sehr kühlen Zweckgemeinschaft der beiden Frauen entwickelt sich ganz zögerlich eine Zuneigung, die inniger ist als es die sozialen Konventionen der Zeit erlauben.

Wie schon in seinem queeren Regiedebüt »God’s Own Country«, in dem sich ein wortkarger irischer Jungbauer in einen rumänischen Saisonarbeiter verliebt, gelingt Regisseur Francis Lee eine intime Liebesgeschichte in schroffer Landschaft, der kleine Glücksmomente stets aufs Neue abgerungen werden müssen. Lee nutzt subtil die karge Steilküste und die Arbeit an den versteinerten Funden als sinnbildlichen Spiegel der sich wandelnden Gefühlslagen, die sich schließlich leidenschaftlich bahnbrechen. Die Romanze ist für Lee allerdings nur ein Aspekt. Er interessiert sich für die Atmosphäre und die kleinen Dinge des Alltags. Der Film lauscht den Geräuschen der Natur und betont Details in Marys ruhigem Leben, in das die fragile junge Frau, auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt, wie ein Störfaktor eintritt. Lees Film beruht auf dem Leben der realen Mary Annings (1799–1847), die lange vergessen war und heute als eine der ersten Paläontologinnen gilt. Ihre Bekanntschaft zu Charlotte Roderick ist verbürgt im Gegensatz zur Affäre mit der verheirateten Frau. Lee nimmt sich diese erzählerische Freiheit, um von der ungewöhnlichen Annäherung zweier einsamer Seelen zu erzählen, die melodramatische Klischees vermeidet und gerade in ihrer zurückgenommenen Art berührt. Das liegt nicht zuletzt an den beiden Hauptdarstellerinnen, die diese höchst unterschiedlichen, auch in sich widersprüchlichen Frauen nuanciert und empathisch verkörpern.

GB/USA/AUS 2020, R: Francis Lee, D: Kate Winslet, Saoirse Ronan, Gemma Jones, 117 Min.