Deutsch-Sowjetische Kältekammern: Sasha Marianna Salzmann, Foto: Heike Steinweg

Die Fleischwolf-Jahre

Sasha Marianna Salzmann erzählt Migration aus der Sicht zweier Generationen

»Minderheiten sind manchmal ganz unterhaltsam. Vor allem wenn sie aufeinander losgehen«, hat Sasha Marianna Salzmann in einem Beitrag zum Feuilleton-Streit zwischen Maxim Biller und Max Czollek geschrieben. »Die Darstellung ihrer Lebensrealität fällt gerne verkürzt aus, so bleibt verborgen, wie vielfältig ihre Anliegen sind.« In ihrem zweiten Roman, »Im Menschen muss alles herrlich sein«, gibt die 1985 im sowjetischen Wolgograd geborene Autorin diesen vielfältigen Anliegen Raum, lässt verschiedene Perspektiven zwischen Kulturen, Religionen und sexuellen Identitäten aufeinanderprallen. Alle vier Protagonistinnen, zwei Mütter und zwei Töchter, gehören Minderheiten an und suchen nach ihrem Platz in der Welt.

In der ersten Hälfte des Romans wird die Geschichte von Lena erzählt: von ihrer Kindheit in der Sowjetunion, dem langsamen Zerfall des Systems, von Korruption, Ausgrenzung und ersten sexuellen Verwirrungen. Etwa, als sie sich in einem Pionierlager zu einem Mädchen hingezogen fühlt, von deren Autonomie sie Schutz erhofft: »Lena dachte, vielleicht ist Aljona ein großer Schatten, der sie bedecken würde, so dass sie neben ihr unsichtbar wäre und alle sie in Ruhe ließen.« Doch Aljona verschwindet in einer psychiatrischen Anstalt und wird dort mit Psychopharmaka ruhiggestellt, während Lena sich entschließt, Medizin zu studieren. Mit ihrem jüdischen Ehemann Daniel kommt sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ebenso wie Salzmann selbst als Kontingentflüchtling nach Deutschland, arbeitet in Jena als Krankenschwester. Ihr 50. Geburtstag, den sie 2017 in der dortigen jüdischen Gemeinde feiern will, ist das Ereignis, auf das der Roman zuläuft. Unter den Gästen sollen auch ihre Tochter Edi sowie ihre Freundin Tatjana mit Tochter Nina sein. Tatjana stammt wie Lena aus der heutigen Ukraine, ihre Tochter Nina wurde in Berlin geboren. Mütter und Töchter repräsentieren zwei Generationen, für die die sowjetische Vergangenheit eine unterschiedliche Rolle spielt. Während an Lenas Kindheit und Jugend durchaus melancholisch erinnert wird, kennen die Töchter die Sowjetunion nur vor der Folie ihres Zerfalls, der »Fleischwolf«-Jahre, wie Salzmann im Roman schreibt.

»Im Menschen muss alles herrlich sein« ist ein Zitat aus Anton Tschechows »Onkel Wanja«. Es gibt dem Roman mit der damit verbundenen Aufforderung, etwas aus sich und seinem Leben zu machen, einen ironischen Unterton: In der sowjetischen Vergangenheit stand der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit die Unterwerfung unter die Ideologie im Wege, in der Gegenwart stolpern die Protagonistinnen über die Zuschreibungen, die ihnen als Flüchtlingen anheften und den gesellschaftlichen Erwartungen, denen sie sich nicht unterordnen wollen.

Buch: Sasha Marianna Salzmann, Im Menschen muss alles herrlich sein. Suhrkamp, 384 S., 24 Euro