Zur Hoffnung

Ob Deutschland seine Klimaziele erreicht, hängt auch an dem kleinen Dorf Lützerath am Rande des Tagebaus Garzweiler. Es ist vom Abriss durch den Energiekonzern RWE bedroht. Klimaaktivist*innen wollen das unbedingt verhindern. Ein Besuch

Drei in dicke Jacken eingepackte und bis zur Nase vermummte Menschen tunken ihre Malerpinsel in Farbtöpfe. Eine Person hantiert mit grüner Farbe und bemalt damit ein Hoftor. Die beiden anderen verewigen sich in Rosa, Lila und Orange auf den geziegelten Hauswänden. Neben der Aufschrift »Patriarchat abtreiben« lassen sie Füchse entstehen. Nicht zu übersehen sind die dicken, ausgemalten Buchstaben, die das Wort »Besetzt« ergeben. An der Fassade des einst bewohnten Wohnhauses experimentieren die Aktivist*innen mit Farben, erzählen ausgelassen, lassen sich Zeit.

Der Schauplatz ist Lützerath im rheinischen Kohle­revier. Das Dorf liegt wenige hundert Meter vom Tagebau Garzweiler II entfernt und ist akut vom Abriss durch den Energiekonzern RWE bedroht. Der Lebensmittelpunkt zehntausender Menschen — ihre Häuser, Kirchen, Bäume — musste bereits den Plänen des Unternehmens weichen. Von Lützerath aus sind die Kohlegrube sowie der 96 Meter hohe Schaufelradbagger, der sich immer näher an das bewohnte Gebiet gräbt, nicht zu übersehen. Umwelt­schützer*innen sind sich einig: Die Grenze zwischen Lützerath und dem Tagebau symbolisiert die 1,5-Grad-Marke des Pariser Klimaabkommens. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) bestätigt, dass die Kohle unter Lützerath dort bleiben müsse, wenn Deutschland etwas an seinen Klimazielen liegt. Von RWE heißt es jedoch, dass es in der Natur des Bergbaus liege, dass er »Raum greift und sich in eine Richtung entwickelt«. Der Konzern hält daran fest: »Der Tagebau entwickelt sich weiter und wird die Ortschaft bis Ende 2022 bergbaulich in Anspruch nehmen.«

Dass der Bagger die Ortsmarke nicht überschreitet, ist für Eckhardt Heukamp auch persönlich von Bedeutung. Ginge es nach dem Konzern, hätte er schon am 1. November sein Bauernhaus verlassen. Als einer der letzten Bewohner des Dorfes wäre er — im wahrsten Sinne des Wortes — vom Hof gejagt worden. Und das, bevor juristisch darüber entschieden ist, ob RWE das Grundstück und seine Gebäude in Besitz nehmen darf. Nachdem das Aachener Verwaltungsgericht erst den Weg für die Pläne des Konzerns frei machte, legte der Landwirt am Ober­verwaltungsgericht Münster Beschwerde ein. Nun sagte RWE überraschend zu, das Grundstück bis zum 7. Januar nicht zu räumen. Bis dahin ist auch eine Entscheidung des Gerichts in Münster erwartbar. Aktivist*innen wie Florian Özcan vom Bündnis LütziBleibt werten das als einen »Sieg unseres Protests«. Für die Klimabewegung ist der Hof so etwas wie die letzte Festung gegen RWE geworden. Durchatmen sei aber nicht angesagt, finden sie. Die Flächen, die nicht Gegenstadt von Heukamps Klage sind, blieben weiter bedroht. Außerdem sei zu befürchten, dass eine Entscheidung aus Münster vor dem 7. Januar kommt. Je nach Ausgang könnte Heukamps Hof dann wieder in Gefahr sein.

Immer mehr Umweltaktivist*innen kamen in den vergangenen Wochen nach Lützerath und errichteten gemeinsam ein Camp, kümmerten sich um den »Lützi-Wald«. Menschen können dort heute in Zelten, selbstgebauten Hütten und Baumhäusern sowie in besetzten Häusern einen Schlafplatz finden. Es wird gesungen, gewerkelt, gesägt, gehämmert, Gemüse geschnippelt oder im überdimensionalen Kochtopf herumgerührt. Die Klimabewegung hatte bundesweit zum »Unräumbar-Festival« mobilisiert. Das war ursprünglich rund um den Tag der Räumung von Heukamps Hof angesetzt. Der Aufschub von RWE hinderte die Aktivist*innen aber nicht daran, trotzdem anzureisen und den Ort noch unräumbarer zu machen. In einem Zirkuszelt finden jetzt Plena statt, der Bereich der Dixi-Toiletten nennt sich »Pipikakatalismus« und unter mehreren Planen sind Couches und Sessel zu einem Wohnzimmer zusammengestellt. Im Cafe-Lützi gibt es Heißgetränke, am Fahrradständer gelbe Soli-Fahr­räder und am »Arbeitsamt« werden sinnvolle Aufgaben verteilt. Dabei wirken alle schon gut beschäftigt. Jede*r scheint zu wissen, was zu tun ist und welcher Nagel wo reingeschlagen werden muss.

Am 1. November demonstrierten rund 5000 Menschen in Lützerath. Mehrere Klimabündnisse hatten dazu aufgerufen, auch Eckhardt Heukamp trat auf die Bühne, um sich für die Solidarität zu bedanken. Im Verlauf des Protests stürmten Aktivist*innen des Bündnisses Ende Gelände aus dem Demozug und verließen die vorgesehene Route. Querfeldein liefen sie über das RWE-Werks­gelände, auf die Kohlegrube zu. Ihr Ziel war der riesige Schaufelbagger. Polizeikräfte versuchten die etwa 600 Aktivist*innen teilweise rabiat aufzuhalten. Den meisten gelang es, das Aktionsziel zu erreichen, der Bagger war inzwischen zum Stillstand gekommen. Unmittelbar an der Abrisskante kesselte die Polizei die Aktivist*innen ein. Ende Gelände gab derweil bekannt, dass die Blockade des Tagebaus gelungen sei. Dina Hamid, Sprecherin der Initiative, sagt, dass die Abrisskante eine klare Grenze sei.

Auch Kathrin Henneberger hat dem Protest beigewohnt. Für Bündnis 90/Die Grünen zog sie kürzlich erstmals in den Bundestag ein. Lützerath liegt in ihrem Wahlkreis. Sie sagt: »Die Zivilgesellschaft hat hier ein sehr klares Zeichen gesetzt.« Der neue Ministerpräsident von NRW, Hendrik Wüst (CDU), sprach sich wenige Tage nach der Demonstration im Landtag für einen Kohleausstieg bis 2030 aus. Mehr noch, er erklärte, dass er rund um den Tagebau Garzweiler II »so viele Dörfer wie möglich retten« wolle. Konkret sprach er von fünf Dörfern, bedroht sind zurzeit aber sechs. Henneberger glaubt, dass diese  Regierungserklärung überhaupt nur durch den Druck der Klima­bewegung zustande kommen konnte. Allerdings wolle die Landesregierung das sechste Dorf — Lützerath — weiterhin zerstören lassen. »Eine ambitionierte Klimapolitik sieht anders aus«, so die Grünen-Politikerin.

LütziBleibt-Aktivist Florian Özcan findet: »Das Ganze ist viel größer, als es scheint. Das ist nicht nur ein Protest gegen Kohle, sondern auch gegen die kapitalistische Zerstörung unseres Klimas.« Er spricht von einem globalen Problem: »Hier ist halt eine lokale Auswirkung davon, aber man könnte auch in den globalen Süden fahren und dort über eine Mine berichten. Da würde man dasselbe strukturelle Problem vorfinden.« Es gehe darum, eine dekoloniale und antikapitalistische Perspektive aufzuzeigen. Der Kern von Konflikten der Klimagerechtigkeit seien ausbeuterische, von Profit gelenkte Vorgänge, die auf dem Rücken Dritter ausgetragen werden. Özcan will ein kritisches Bewusstsein dafür schaffen, etwa in Form von weiteren Workshops.

Unterdessen diskutieren die Ampelkoalitionäre in Berlin über die Rahmenbedingungen einer rot-gelb-grünen Regierung. Eines der Themen, die in Berlin zur Verhandlung auf dem Tisch liegen, ist ein Kohleausstieg bis 2030. Kathrin Henneberger von den Grünen hält dieses Vorhaben für realistisch: »Die Politik hat das demokratische Recht, sich Zeit zu nehmen, um zu definieren, was 2030 überhaupt bedeuten kann und welche Grundlagen dafür gelten müssen.« Wenn der Kohleausstieg auf Bundesebene vorgezogen wird, dürfe das Land NRW nicht vorher schon räumen. Sie fordert: »Jetzt muss inne gehalten und nicht vorab schon Fakten der Zerstörung geschaffen werden.« Denkbar sei zudem, dass die Entscheidung aus Münster im Fall Heukamp dann fällt, wenn bundesweit Klarheit über das Datum des Kohleausstiegs besteht.

Inmitten der eher hypothetischen Überlegungen zur Zukunft des Dorfes wird Lützerath immer widerständiger. Menschen schaffen Blockaden und Hindernisse. Seit mehreren Wochen halten sie sich für den Tag bereit, an dem Polizeikräfte zur Räumung vorrücken. Özcan glaubt, dass umstehende Höfe schon vor Januar abgerissen werden könnten. »Vielleicht würden Räumungskräfte auch auf das Camp kommen, wenn wir weniger wären. Es kommt wahrscheinlich darauf an, wie viele Menschen hier sind und wie viele dauerhaft versuchen, Lützerath zu verteidigen.« An den Tagen des Unräumbar-Festivals war zu beobachten, in welcher Geschwindigkeit Neues entstehen kann. Henneberger sagt: »Es ist unglaublich, was für ein Ort Lützerath geworden ist.« Greta Thunberg sprach von dem rheinischen Dorf kürzlich noch als einem »Ort voller ­Traurigkeit«. Aber wer in den letzten Tagen dort war, hat einen Ort der Hoffnung und des solidarischen Miteinanders erlebt.