»Als wir Jahre später freigelassen wurden, waren wir unter dem Erlebten brotkrumenklein geworden«

Doğan Akhanlı war Weltbürger und Menschenrechtler, seine größte Waffe waren die Worte. Ein Nachruf

»Der Staat beharrte auf seinem Staat­sein und ich auf meiner Wider­spens­tigkeit. Ich wurde mit meiner Frau und unserem 16 Monate kleinen Sohn erneut ›befragt‹«, schreibt Doğan Akhanlı in seinem Text »Die Fremde und eine Reise im Herbst«. Als seine Frau nach einem Jahr und Doğan nach drei Jahren freigelassen ­wurden »waren wir drei unter dem Erlebten brotkrumenklein geworden.«

51 Jahre war Doğan Akhanlı alt, als er im Jahr 2008 diese Ereignisse in seinem autobiografischen Epos »Die Fremde und eine Reise im Herbst« schilderte. In der Türkei galt er da schon als ein großer Schriftsteller, in seinem Wohnort Köln war er als Autor noch unbekannt.

Doğan Akhanlı wurde 1957 in einem kleinen Dorf am Schwarzen Meer geboren. Mit 17 Jahren wurde er erstmals inhaftiert und misshandelt. Sein Verbrechen: Er kaufte an einem Kiosk eine legale linke Tages­zeitung. Nach dem Militärputsch 1980 folgten langjährige Untergrundtätigkeiten und fünf Jahre später eine lange Gefangenschaft mit schwerster Folter. 1991 floh er mit seiner Familie nach Köln. Hier fühlte Doğan sich sicher, hier engagierte er sich für eine konsequente Menschenrechts- und Erinnerungspolitik, wozu auch die Erinnerung an den türkischen Völkermord an den Armeniern 1917 gehörte.

In Doğans ersten Jahren in Köln war sein Jugendfreund, der Schriftsteller Adnan Keskin, sein engster Vertrauter. 1987 war Keskin die Flucht nach Köln gelungen. Vier Jahre später wurde Keskin »mein eigener Fluchthelfer«. In seinen Büchern, Theaterstücken und Hörspielen verarbeitete Doğan ihr gemeinsames Exil.

Am 28. Dezember 1995 beschloss der Exilant, Schriftsteller zu werden: »Ich war zwar jemand, der noch keinen einzigen literarischen Satz geschrieben hatte, aber ich spürte, dass ich schreiben musste. In dieser Nacht habe ich nur eine Seite schrei­ben können«, erinnerte er sich. Nach zehn Tagen waren es 200 Seiten. Doğan lebte in Köln, aber schrieb auf Türkisch. Die Gespaltenheit war für ihn schwer zu ertragen und präg­te ihn zwei Jahrzehnte lang. 1998 ereilte ihn die Nachricht von seiner Entlassung aus der türkischen Staatsbürgerschaft. »Ich muss wohl sehr verletzt und wütend gewesen sein. Ich muss geradezu herausgeschrien haben: ›Kein heiliger Staat wird mir mein Recht nehmen können, den Boden zu betreten, auf dem das Grab meiner Mutter liegt! ‹« Drei Jahre später erhielt Doğan die deutsche Staatsbürgerschaft, war nun »gerettet«. Die Liebe zu seiner fernen, liebenden, belesenen Mutter half ihm, den Schmerz der gewaltsamen Vertreibung zu ertragen. Regelmäßig hatte sie ihre Familie um sich versammelt, um gemeinsame Leseabende zu zelebrieren.

1998/1999 erschien seine Trilogie »Die verschwundenen Meere«. In seinen Erzählungen erinnerte er an die politische Geschichte der Türkei zwischen den 70er und 90er Jahren. Seine Bücher standen in der Türkei auf den Bestsellerlisten.

Immer wieder und mit beeindruckender Hartnäckigkeit erinnerte Doğan von Köln aus mit öffentlichen Aktionen an den türkischen Völkermord an den Armeniern, meist gemeinsam mit seinem armenischstämmigen Kölner Freund und Anwalt Ilias Uyar.  2010 — Doğan war seit neun Jahren nur noch deutscher Staatsbürger — kam er erneut in ein türkisches Hochsicherheitsgefängnis. Er hatte seinen todkranken Vater besuchen wollen, aber weil seine Bücher die Verbrechen des Osmanischen Reiches thematisieren, war er für den türkischen Premierminister Racep Tayyip Erdoğan Staatsfeind Nummer eins. Dabei verwendete Doğan, der ehemals Linksradikale, in seinem Kampf seit Jahrzehnten als einzige Waffe die Sprache. Auf die  Verhaftung folgte eine internationale Solidaritätswelle. Nach vier Monaten wurde Doğan freigelassen. Er besuchte noch einmal sein Heimatdorf und das Grab seines inzwischen verstorbenen Vaters.

Als die türkische Justiz drei Jahre später den absurden Prozess erneut ansetzte, brach Doğan endgültig mit dem Land, das ihn aus­gestoßen hatte. Seine Bücher, etwa sein grandioser Roman »Fasil« (2010), in dem er die Folter sowohl aus der Sicht des Täters als auch des Opfers beschreibt, waren in der Türkei Best­seller. Doğan, dessen Deutsch bisher eher radebrechend war, beschloss, »richtiges« Deutsch zu lernen. Die Türkei war nicht mehr sein Land.

2014 wurde er in Köln mit einem Preis der evangelischen Kirche ausgezeichnet. In seiner Dankesrede entwarf er das erinnerungspolitische Konzept eines »nationalen Gedächt­nisraumes« und fügte aus autobiographischer Perspektive hinzu: »Ich war ein radikaler politischer Untergrundkämpfer.« Dafür habe er einen hohen Preis bezahlt. »Ich bin stolz darauf, es ist ein Teil von mir«. Heute jedoch sei er ein Autor, kein Aktivist mehr: » Das Schreiben hat mein Leben völlig verändert. Ich bin von einem überzeugten Aktivisten, der glaubte, er wisse das Wesentliche über die Welt, zu einem Menschen geworden, der mehr Fragen als Antworten hat.«

2017, bei einem Kurzurlaub im spanischen Granada, ereilte ihn erneut Erdoğans Rachsucht: Spanische Polizisten nahmen den gebrech­lichen 60-Jährigen fest. Der internationale Protest war gewaltig, der damalige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel schaltete sich ein. Einen Tag später wurde Doğan freigelassen, musste jedoch mehrere Wochen in Spanien bleiben. Doğan blieb unerschrocken. Er schrieb seine autobiographischen Erinnerungen »Verhaftung in Granada« nieder. »Ich bin ein Glückspilz«, bemerkte er scheinbar nebenbei. Seine erneute willkürliche Festnahme machte ihn weltweit berühmt — auch in Deutschland.

Doğan Akhanlıs Seele musste Furchtbares ertragen. Seinen Lebens­schwerpunkt hatte er schon 2019 nach Berlin verlegt, wegen neuer Erinnerungs- und Theaterprojekte. »Ich werde sterben«, sagte Doğan seinem guten Freund, dem Kölner Lyriker Gerrit Wustmann bei einem kurzen Telefongespräch vor sechs Wochen. Nach einem kurzen, schweren Kampf ist Doğan Akhanlı am 31. Oktober im Alter von 64 Jahren in Berlin verstorben. Er wird in Köln beerdigt. Ein Teil seiner Asche soll in seiner Geburtsstadt beigesetzt werden. Es war Doğans letzter Wunsch.