Die doppelten Außenseiter

Wer schreibt, ist Außenseiter*in — dafür ist schon das Schreiben selbst verantwortlich.

Weil das Leben immer schneller ist als das geschriebene Wort, muss man auf Abstand zu ihm gehen, um dem Schreiben Geltung verschaffen zu können. Nicht immer ist ­dieser Abstand freiwillig, so auch bei den Texten, die wir gemeinsam mit dem Autor*innen-Café fremdwOrte Köln ver­öffentlichen.

Yahya Ekhou etwa beschreibt, wie ihn seine atheistisch-­säkulare Haltung zum Außenseiter in seiner Heimat Mauretanien gemacht hat. Shaghayegh Shaddel erzählt dagegen »nur« die Geschichte eines kleines Mädchens, aber verfasst im Tatischen, einer südwestiranischen Sprache, die dort nicht offiziell anerkannt ist. Zehra İpşiroğlu dagegen schildert das aka­demische Milieu einer deutschen Universitätsstadt durch die Augen eines Kindes, das mit ihren Eltern vor dem Militärputsch in der Türkei geflohen ist. Und der /die nicht-binäre Autor*in Glauconar Yue schreibt in Deutschland über das El-Dorado-Hochhaus in Perus Hauptstadt Lima.

Viel Spaß beim Perspektivwechsel wünscht, die Stadtrevue-Redaktion

 

Glauconar Yue

Der letzte Chaufa des Grafen zu Lerchenfeld

Das El-Dorado-Gebäude in San Isidro ist heutzutage wenig mehr als ein Betonklotz, an dem man ohne Weiteres vorbeifährt. Im unteren Stock ­sind kleine Geschäfte, Schuhreparatur, Süßwaren. In den fünfzig Stockwerken darüber befinden sich Büros diverser mittlerer Unternehmen, deren Namen keiner kennt. Beim Eingang steht noch das große Schild des Drachen-­Chifas, ein Restaurant, welches jetzt nur die Arbeiter des Gebäudes besuchen, das aber mehrere Legenden gesehen hat.

Der »loco del edificio El Dorado« ist eine davon. Der böswillige Name macht ihrem Protagonisten natürlich keine Ehre. Es war der Graf zu Lerchenfeld, der eines Abends ins Drachen-Chifa kam. Er hatte einen Anzug abgestaubt, der seit Jahren in seinem Kleiderschrank hing. So war er bei weitem der Eleganteste, als er im Erdgeschoss in den Aufzug stieg. Breite Männer, die in ihren Anzügen mit Schulterpolstern schwitzten, Frauen, deren Bürokleidung kurze Miniröcke vorschrieb, alte Damen mit mehreren Kilos Make-Up  im Gesicht und deren Enkelkinder, die genervt versuchten, die Krawatte auszuziehen, stiegen ein und aus. Jeder Geruch blieb in der schwülen Luft hängen, doch das Parfüm und die Geduld des Grafen ließen nicht nach. Menschen liefen an ihm vorbei, diskutierten laut um ihn herum, wollten ab einem gewissem Punkt eher runter als hoch. Der Graf aber fuhr unerbittlich weiter, die fünfzig Stockwerke bis ins Restaurant auf der Terrasse.

An der Rezeption wurde zweimal gefragt: Er war der einzige, der für nur eine Person reserviert hatte. Die junge Dame sprach seinen Namen auf Englisch aus. Er antwortete schon ohne Weiteres auf »Lerrtschfield«, doch stieß dabei auch jedes Mal einen bemitleidenden Seufzer aus.

Das Drachen-Chifa war als ein Fantasie-China dekoriert. An den Wänden standen Aquarien mit exotischen Fischen und Krabben darin. Der Raum wurde durch Zwischenwände mit runden Fenstern und Papierschirmen getrennt, auf denen Drachen und Kraniche über steile Berge flogen. Es war, als hätte jemand Häppchen aus einem Kaiserreich, das es nie gab, im letzten Stockwerk eines südamerikanischen Gebäudes angehäuft.

Obwohl er kein Geld hatte, begab er sich zum Buffet, wo mehrere ­Menschen Schlange standen. Die Gäste nahmen sich Zeit, um ihre Teller besonders voll mit allem Möglichen aufzuhäufen. Man konnte kaum mehr zwischen den Nudeln, den Lomo Saltau und dem Schweinefleisch süß-sauer unterscheiden. Der Graf nahm einiges vom Dim-Sum, in etwa, was im Vergleich zu den anderen Tellern wie eine Probeportion wirkte. Zu den Krabbenpuffern gab es keine Austernsoße mehr. Der Graf versuchte, irgendeinen Kellner höflich darum zu bitten, doch sein Versuch ging im Lärm und Getöse unter.

Dann saß er in Nähe des Fensters und sah die Stadt von oben. Nach einigen Jahren Demokratie hatte das Militär zum zweiten Mal einen Coup d’état durchgeführt. Die erste Welle des Kommunismus war schon schlimm gewesen: Enteignung der Ländereien, Verstaatlichung vieler Unternehmen, wechselnde Sprachen in den offiziellen Medien. Jetzt zeigten sich alle begeis­tert vom neuen Diktator, denn keiner traute sich, etwas gegen ihn zu sagen. Von zuhause in Ostdeutschland kamen auch keine guten Nachrichten.

Die Krabbenpuffer waren zart genug, dass sie sich auch mit Sojasoße genießen ließen, doch der Unterschied war noch spürbar.

Der Graf gab seinen ersten Teller zurück, nahm ein Glas Weißwein und setzte sich an den Flügel. Es hatte wohl schon länger keiner daran gespielt, denn mehrere Töne waren verstimmt. Lerchenfeld spielte trotzdem das Nocturne von Chopin aus, indem er versuchte, die verstimmten Töne zu meiden. Als er fertig war, wurde er beklatscht, doch wusste, dass das, was er gespielt hatte, kein anständiger Chopin war. Der Schmerz der verstimmten Töne hallte in ihm wider und die Ignoranz der Begeisterung des Pub­likums machte es nur noch schlimmer.

Auch Frau Mankowska war stets von ihm begeistert gewesen. Sie war immer dabei, als er auf den Anlässen der polnischen Botschaft spielte. In Lima war dies der beste Zufluchtsort für ihn gewesen. Auch wenn er die Sprache nicht kannte, war die Umgebung mehr oder weniger mitteleuropäisch. Die Polen konnten außerdem über gehobene Themen reden, obwohl das Spanisch des Grafen und ihr eigenes beide nicht perfekt waren. Sie wussten ein gutes Klavierspiel zu schätzen. Die meisten, zumindest. Nicht aber Frau Mankowska. Sie war immer begeistert, egal was der Graf tat. In diesen Situationen dachte er daran, dass der Adel schon immer etwas war, das er im Geiste trug. Schon in seiner Jugend war das Vermögen der Familie verloren gegangen, und kaum jemand erkannte ihren Titel an. Doch auch wenn keiner es verstand oder anerkannte, kannte er doch das Niveau, dass er aufrechtzuerhalten hatte.

Der Graf ging für eine zweite Runde ans Buffet. Er nahm die letzte ­Portion Chijaukay-Hähnchen, panierte und frittierte Häppchen in zarter brauner Soße, und weißen Duftreis dazu.

Frau Mankowska hatte den Grafen auch einst in das Drachen-Chifa eingeladen. Er hatte immer wieder das Thema gewechselt und sich darum bemüht, höflich zu bleiben. Auf ihre Briefe hatte er nie geantwortet. Sie war zweimal so alt wie er und leider keine besonders interessante Person.

Als er mit dem Teller zurück zu seinem Tisch ging, rannte ihm ein ­kleines Mädchen vor die Beine. Der Graf stolperte und jonglierte mit seinem Teller, um das Mädchen nicht mit Chijaukay-Soße zu überschütten, warf das Essen dabei jedoch auf seinen eigenen Anzug. Die Mutter kam bald herbeigeeilt und entschuldigte sich mehrmals mit schmeichelnden und repetitiven Worten. Bevor der Graf wusste, wie er mit der Frau um­gehen sollte, hatte sie schon mehrere Kellner organisiert, die erfolglos versuchten, die braunen Chijaukay-Flecken aus dem blauen Anzug zu wischen. Die Frau forderte den Grafen gleichzeitig mehrmals dazu auf, sich zu ihrer Familie zu setzen und befragte ihn dazu, wieso er überhaupt alleine sei. Inzwischen hatte sie ihm einen neuen Teller serviert, mit Chaufa statt Chijaukay, doch der Graf bestand darauf, sich wieder an seinen Platz zu setzen.

So kam er, mit beflecktem Anzug, wieder vor das Fenster und aß langsam und emotionslos seinen letzten Chaufa. Es war in etwa dem ähnlich, was er früher als Eierreis gekannt hatte. Die peruanische Version hatte aber in allem ihre Eigenart, mit einigen einheimischen Zutaten und anscheinend viel durchmischter. Der Teller war randvoll, doch der Graf aß stoisch auf. Dann bestellte er sich ein Glas Pflaumenwein und ging auf die Terrasse, um den Sonnenuntergang zu betrachten.

Draußen war die Luft heißer und schwüler als im Inneren des Restaurants. Mehrere Familien und Paare tranken und lachten um ihn herum, während er alleine an den Rand der Terrasse schlenderte. Er beugte sich über das Geländer und blickte in die orangenen Sonnenstrahlen hinter den Gebäuden. Unbemerkt glitt ihm das Glas aus der Hand, und erst als er folgte, sprang die Menge skandalisiert auf. Im Chaufa seines Lebens hatte der Graf zu Lerchenfeld kaum noch etwas, woran er sich festhalten konnte. Es war überhaupt heldenhaft, dass er so weit durchgehalten hatte, und trotz des befleckten Anzugs noch ein vornehmes Auftreten hatte, doch dies war sein letzter Sonnenuntergang und sein letzter Chaufa ge­wesen.

 

 

Ist es gerecht, nicht zu zeigen, was wir denken?

Aus dem Arabischen und Englischen übersetzt von Mirjam Kay Mashkour

Überall auf der Welt müssen Menschen unter Systemen leiden, die ihnen als Tatsachen verkauft werden, von denen sie glauben, dass sie sie allein nicht finden können. Ich sehe das Schicksal meiner Familie und meines Stammes, die denken, dass sie nur gut sind, weil sie einer sehr strengen Version des Islam folgen und wer den Islam aufgibt, wird ein schlechter Mensch. So kann ich auch über mein Schicksal entscheiden, den Islam verlassen und ein guter Mensch sein. »Der Gotteswahn« von Richard Dawkins ist das Buch, das viele meiner Fragen beantwortete, aber es bringt einen dazu, den eigenen Verstand stärker zu nutzen, weil es auch unendlich viele Fragen und Überlegungen aufwirft. Ich dachte daran, den Glauben zu verlassen, als würde ich einen Ozean durchqueren, als würde ich von einem Ufer zum anderen schwimmen. Ich bin schon auf hoher See und kann das Ufer, das ich verlassen habe, nicht mehr sehen. Hasswellen erheben sich gegen mich und drohen, mich zu ertränken, und ich durchleide Todesangst, weil ich nicht in das Gefängnis zurückkehren will, aus dem ich gekommen bin. Ich weiß sehr gut, dass meine öffentliche Kritik an Religion und Gott einige Menschen dazu veranlassen wird, mich zu verlassen und zu hassen. Sie wenden Gewalt gegen mich an, deshalb kann ich mit niemandem offen darüber sprechen. Die Macht des religiösen Stammes Tejakanet ist wie ein Kreis, der die Menschen umgibt und wie ein Gefängnis ist, für ihre Augen und ihren Verstand. Der Kreis wird größer, bis er zu einem Nebel über ihren Augen und ihren Gedanken wird und nur noch Stille herrscht. Sie dachten, dass es eines Tages der einzige Ausweg für sie sein würde! Es sind die gleichen Gesichter, von denen ich dachte, sie würden alles mit einer Illusion reparieren. Sie überließen den Verstand dem Maß der Zufälligkeit. Was macht der Verstand mit ihnen, während sie nichts für ihn tun? Also versuche ich zu fliehen und mich den Zähnen der Scharia und der Gesellschaft zu entziehen. Weil ich nicht länger mit der Sprache und diesem Verhaltens­stil von Brutalität, Hass, Verfolgung, Gewalt, Spott und Mobbing leben kann. Diese Sprache lehren sie jedes Kind.

Mein Land hat dem Menschen das Geschenk der freien Entscheidung versagt. Unsere Stimmen wurden als Opfer für Bräuche, Traditionen und Gesetze zum Schweigen gebracht, giftig für jeden, der versuchte, sich ihnen zu nähern. In einem Land, in dem die Einzigartigkeit des Denkens verboten ist. In einem Land, in dem jeder Revolutionär festgenommen wurde. Vielmehr jeder, der die Wahrheit sagte. Man hat nur zwei Möglichkeiten: seine Rechte auf Papier zu schreiben und zu begraben oder sie auszudrücken und Arbeit, Nationalität, Leben zu verlieren.

Ich wünschte, ich könnte die Schlaflosigkeit loswerden, die mich erfüllt, also setze ich meine Kopfhörer auf. Lieder wie Koffein für meine Ohren erfüllen mich mit dem Beharren auf Widerstand. Weil ich mich nur meinem Verstand und dem Musiker ergebe. Manchmal nennen sie mich einen Blasphemiker; ein anderes Mal bieten sie mir an, mich auf den rechten Weg zu führen. Deshalb habe ich gar nicht erst viel mit ihnen diskutiert. Sie wissen nichts über mein Leiden oder was Verdacht bedeutet.

Der Zweifel gibt uns das Gefühl der Wahl, das Gefühl, dass wir das Recht haben, zu überprüfen, was in unseren Köpfen ist, und somit das Recht, es zu ändern oder zu löschen.

Meine Träume waren einfach. Ich träumte davon, ein richtiges Zuhause zu finden, einen Unterschlupf, der mich vor ihren Stürmen schützen würde. Ich hatte das Gefühl, meine Wurzeln würden von ihren Stürmen herausgerissen, so wie Zelte in der Wüste fliegen. Ich träumte, ich hätte einen Vater und eine Mutter, um ihnen von meinen Krisen zu erzählen und sie bedingungslos zu umarmen.


Auch der Mensch wird auch in einem Kokon wie ein Schmetterling geboren. Der Kokon des Menschen ist jedoch anders. Der Kokon des Schmetterlings ist leicht zu entfernen, da seine Struktur fragil ist. Es wird nicht schwieriger und schwieriger, ihn zu verlassen. Der Kokon des Menschen hat viele Schichten, beginnend mit dem Kokon des Glaubens, der Bräuche und Traditionen und so weiter. Diese sind schwer zu überwinden. Warum? Weil sie als Axiome und Konstanten betrachtet werden, die nicht aufgegeben werden dürfen. Du wirst es mit deinem Leben bezahlen! Diese Kokons zwingen uns, unser Leben in Gräben zu verbringen, aus Angst, uns selbst, unsere Wahrheit und unsere Gedanken zu enthüllen. Wir sind voller Stille und Heuchelei und wenn wir unsere Stimmen erheben, sind wir Gewalt, Unterdrückung, Ausgrenzung und Diskriminierung ausgesetzt. Wer bin ich? Ich bin eine Person ohne Definition. Oder du kannst mich auch als nicht zugehörig und nicht existent bezeichnen. Wie kann ich existieren, wenn ich nicht die Freiheit habe, zu wählen? Ich habe nichts gewählt: Land, Religion, Name, Anführer, Bräuche, Traditionen ... Ich habe mich entschieden, in das Land der Freiheiten, das Land der Ungläubigen, wie sie es bezeichnet haben, auszuwandern. Ich bin aus meinem Land emigriert, weil ich ein Ungläubiger bin. Ungläubiger der gesellschaftlichen Bräuche, Ungläubiger aller Traditionen, Ideen und Menschen, die immer gegen mich waren. Die Gläubigen sind dagegen, dass ich ich selbst sein will, gegen das Abnehmen der Maske, gegen das Aufgeben von Dingen, die ich nicht frei gewählt habe. Sie bestrafen mich für ein Verbrechen, von dem sie glauben, dass es unverzeihlich ist und keine Strafe hat, außer den Tod. Du selbst zu sein bedeutet, dass du ihr Sein und ihre Heiligkeit bedrohst! Ein Land wie meines hat eine einzige Ideologie, eine einzige Religion und eine einzige Farbe. Weil jeder Unterschied Unglaube ist. Was ich am meisten fürchtete, war, maskiert zu sterben.

 

 

Zehra İpşiroğlu

Was bei den Deutschen »anders« ist

Es war gerade 1960, zur Zeit des ersten Militärputsches, als mein Vater mit 147 anderen Professoren aus der Universität flog. Da hatten die Erwachsenen auch andere Sorgen als ich. Einige Monate nach dem Putsch bekam mein Vater eine Gastprofessur in Tübingen. So kam ich mit zwölf Jahren zum ersten Mal nach Deutschland. Tübingen war damals eine idyllische Stadt, die Menschen, die wir kennenlernten, waren meistens Kollegen meines Vaters, die in etwa mit mir gleichaltrige Kinder hatten. Ich wunderte mich über die Arbeitsfreudigkeit der Deutschen, wenn ich meine Freundin Susanne übers Wochenende besuchte: Da kamen wir ­Kinder kaum zum Spielen, immerfort gab es etwas zu tun: Aufräumen, Sauber­machen, Müll wegbringen, was die Kinder alles freudig erledigten.

Die Erwachsenen waren echte Arbeitstiere, ein zwanglos spontanes, fröhliches Treffen zum Essen, Trinken und zur Unterhaltung wie bei uns zu Hause gab es hier kaum. Meine Mutter erklärte das abwertend damit, dass die Deutschen eben keine Ess- und Unterhaltungskultur hätten, obwohl sie es bestimmt ganz gern gehabt hätte, wenn die Türken auch etwas weniger Esskultur hätten, denn die meiste Arbeit musste sie ja tun.

Mein Vater jedoch, der gar nichts gegen unsere Ess- und Unterhaltungskultur hatte, sprach dennoch fast ehrfürchtig von einer »höheren«, geistigen Kultur der Deutschen. Womit meine Eltern aber beide nicht viel anfangen konnten, das war die schwäbische »Spare, spare, Häusle baue«-Mentalität, auch die verbissene Durchplanung der Zukunft bis in die kleinsten Einzelheiten. Mein Vater war wie vor den Kopf gestoßen, als unsere Hausvermieterin einmal, als er wegen einer harmlosen Krankheit im Bett lag, besorgt meine Mutter fragte, ob der Herr Professor wohl schon sein Testament gemacht habe, und dabei ihren eigenen Mann, den Seligen, lobte, der für alles so gut vorgesorgt habe. Ich wunderte mich über die ­Professorenfrauen, die von ihren Ehemännern so sprachen, als wären sie höhere Wesen. Manche hörten sich sogar voller Begeisterung die Vorlesungen ihrer Männer an. Ich wunderte mich über meine Klassenkameradin, die alle nur »Tante Irmi« nannten, die ein Jahr lang pechschwarze Kleider trug, nachdem ihr Vater, ebenfalls ein Professor, gestorben war. Und ich wunderte mich über die sonntäglichen Kirchenrituale der meisten Familien. Öfters gefragt, welcher Religion ich angehöre, sagte ich einfach: dem Islam, aber auf die neugierigen Fragen, ob wir dann auch immer in die Moschee gingen, ob die Frauen bei uns Kopftuch trügen, ob es bei uns Alkohol- und Schweinefleischverbot gebe, da wurde ich etwas verlegen, denn alle erwarteten, dass ich ihnen entsprechende exotische Geschichten erzählte. Kopftuchfrauen kannte ich überhaupt keine, weil es damals in Istanbul tatsächlich kaum welche gab. Wein tranken meine Eltern fast jeden Tag und luden dazu auch noch Gäste ein, und nach Würstchen, vor allem nach den leckeren Nürnberger Bratwürsten, war ich so süchtig, dass ich einmal vom Vollstopfen damit krank wurde. Moscheen jedoch, aber auch all diese Kirchen und Kathedralen, genauso die vielen Museen — die hasste ich von Herzen.

Denn kaum in Tübingen angekommen, machten wir ständig Besichtigungstouren, und ich wurde von meinen Kunsthis­to­riker-Eltern von einer Kirche zur anderen geschleppt. Während ich gelangweilt hinter ihnen hertrottete, faltete mein vierjähriger Bruder Osman seine Händchen und betete still und brav für sich, wie er es im Kindergarten gelernt hatte. Waren mir also Kirchen grundsätzlich genauso zuwider wie Moscheen, so wurde ich doch auf einmal eine begeisterte Kirchgängerin: Denn ich trat in den Kirchenchor ein, berauschte mich an der wunderschönen Musik, die ich mitsang, hatte ich mir doch in den Kopf gesetzt, Sopransängerin zu werden. Außerdem verliebte ich mich in den Pfarrer, einen engelhaft schönen, blondlockigen jungen Mann mit himmelblauen Augen und sanfter Baritonstimme. Sobald er zu predigen anfing, ver­wandelte sich die Kirche in einen pompösen Opernsaal, und ich sah mich bereits als eine von allen bewunderte Diva mit ihm auf der Bühne stehen. So sangen er und ich, einander tief in die Augen schauend, die schönsten Duette. Sobald die ­Predigt zu Ende war und die Musik wieder ansetzte, kehrte ich jedoch ­wieder in meine bescheidene Rolle als Cho­ristin zurück.

Zum ersten Mal in meinem Leben ging ich richtig freudig in die Schule. Im Uhland-Gymnasium gab es keine kasernenartig militärische Atmosphäre, keine kommandierenden und brüllenden Lehrer, kein Auswendiglernen, keine Angst, keinen Stress wie in der Deutschen Schule in Istanbul. Zu meinen Klassenkameraden hatte ich viel mehr Zugang als in Istanbul, weil alle aus ähnlichem, also mehr bildungs- als besitzbürger­lichem Familienmilieu kamen. Auch war es etwas Besonderes, dass eine Türkin in die Klasse kam; alle umringten und bewunderten mich, einige hätten am liebsten Türkisch gelernt, so schön fanden sie diese Sprache. Plötzlich gehörte ich richtig dazu und war kein Outsider mehr wie in Istanbul. Ich freundete mich mit der Tochter eines Altphilologen an, Maren Kroymann, die später Schauspielerin, Kabarettistin und Sängerin werden sollte, und lebte, als meine übrige Familie nach Istanbul zurückkehrte, eine Zeitlang bei ihnen, hatte große Achtung vor Mama Kroymann, die wie eine Schwerstarbeiterin für die ganze fünfköpfige Familie und noch dazu für mich sorgte, wunderte mich über den Papa, den niemand ernst nahm und ekelte mich vor dem grobschlächtigen Bruder, der sich mit ungehobelten sexuellen Witzen austobte. Er war genau das Gegenteil von Fürst Myschkin aus Dostojewskis »Der Idiot«, der damals mein Idol war.

 

Shaghayegh Shaddel Rana, das Goldstück

Aus dem Tatischen ins Deutsche übertragen von der Autorin in Zusammenarbeit mit Bassima Khoury

Es war vier Uhr morgens, als die kleine Rana aufwachte. Rana rieb sich die Augen und schaute zum Himmel hoch. Es war überall dunkel, denn die Sonne war noch nicht aufgegangen. Rana sah sich um, ihr Vater schlief noch und ihre Mutter war nicht im Schlafzimmer. Ihre Mutter wachte scheinbar früher als gewöhnlich auf. Rana stand auf und ging zur Tür.

Die ganze Familie hatte im selben Zimmer geschlafen. Rana war die einzige Tochter in der Familie, sie hatte drei Brüder, die neben dem Vater schliefen. Sie schliefen alle so tief und merkten nicht, dass Rana zur Tür lief.


Ihre Brüder arbeiteten auf dem Bauernhof ihrer Eltern. Erst abends kamen sie immer nach Hause zurück und waren jedes Mal so schrecklich müde, dass sie sofort nach dem Abendessen ins Bett gingen.

Ranas Brüder waren älter als sie. Amir war 15 Jahre alt, Javad war 13 und Jalal 11. Rana öffnete die Tür und sah sich um. Die große Kammer, wo die Lebensmittelvorräte aufbewahrt wurden, war hell erleuchtet. Sie wusste, dass ihre Mutter dort war.

Rana zog ihre kleinen Hausschuhe an, sie putzte ihre Nase mit dem Ärmel und hüpfte die Treppe hinunter. Der Hof war groß; im Stall standen fünf Kühe, auch wurden dort mehrere Ziegen, Schafe und jede Menge Hühner gehalten. Ein paar Obstbäume wuchsen auch im Hof.

Rana öffnete die kleine Tür. Ihre Mutter hockte auf der Bodenmatte und knetete den Teig für die Brotfladen, die sie für das Frühstück und das Mittagsessen backen wollte.

Ranas Mutter lächelte als sie ihre Tochter sah: »Guten Morgen, meine schöne Tochter. Warum bist du so früh aufgestanden? Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, meine Süße, mein Goldstück! Geh doch schlafen«.

Rana kicherte und lief zu ihrer Mutter; die Kleine küsste ihre Wange und legte ihr Köpfchen auf die Schulter ihrer Mutter und sagte: »Guten Morgen, meine liebe Naneh«.

Rana holte Feuerholz und half ihrer Mutter den Lehmofen anzu­zünden. Gemeinsam backten sie das leckere Brot.