Mit dem Unwahrscheinlichen spielen: Tara Clerkin Trio, © Matilda Hill-Jenkins

Wenn die Kirschblüten grüßen

Neues von Leonid Lipelis und dem Tara Clerkin Trio

Immer wieder wird an dieser Stelle diskutiert, ob es einen Trend vom Album-Format zum Kurzformat der EP, der Single, der Maxi, gibt; und ob diese Entwicklung Folgen für die Musik hat. Eine Folge des Streamings, der digitalen Veröffentlichungen und der häufig günstiger  produzierten 7- und 12Inch-Platten ist längst ins Auge gefallen: Die große Kunst der Cover-Gestaltung droht auszusterben.

Ein Blick zurück: Als erster Großmeister der Vinylverkleidung darf zweifelsohne der Fotograf, Grafiker und Blue-Notes-Mitgründer Francis Wolff gelten. Sein Auge für tiefe Emotionen; für Nebensächlichkeiten, die doch in den Fokus rücken; für das Sichtbarmachen des Eigentlichen sind legendär. Sie haben das Label entscheidend geprägt und es zugleich zu einem der wichtigsten der 1940er, 50er und 60er Jahren werden lassen.

Wolffs Vergrößerungen — Ausschnitte aus seinen Abzügen, die hochgezogen dann die Cover wurden — öffneten für die Musik, die sie ummantelten, eine neue Facette: Die Stücke von Herbie Hancock, Coltrane oder Thelonious Monk waren sicher die »eigentliche Kunst«, aber alles drumherum war Teil des Kunstwerks.

Darauf folgten alle ikonischen Plattenhüllen — genau jene, die heute in irgendwelchen Coffee-Table-Books vervielfältigt sind, oder — noch schlimmer, wenn man ehrlich ist — an die Wand gehangen werden. Gänzliche Sinnentleerung und Loslösung von der eigentlichen Arbeit gab und gibt es eben auch.

Wer nun eine Platte, eine CD oder sogar eine Kassette in die Hand nimmt, der erkennt sofort, dass auf diesen Medium der Platz zur Gestaltung vergleichbar gering ist. Dementsprechend glänzen 12Inch in schwarzen oder weißen Unterhosen selten durch coole Labels, Funktionalität ist hier King. Es geht um die Infos.

Wer sich durch Spotify klickt, durch Bandcamp und ähnliche Portale; wer Plattenhändler ansteuert und tief in die Kiste schaut, der wird vermutlich immer häufiger auf schlichte Gestaltung treffen. Dem Autor dieser Zeilen ergeht es jedenfalls so — umso mehr freut er sich, wenn etwas abseits der Alben-Landschaft gut, interessant, sexy oder mysteriös aussieht.

Leonid Lipelis scheint das verstanden zu haben: Seine neue EP »Function As a Meaning« kommt mit einem mystischen Cover der Moskauer Malerin Alina Vinogradina gleich doppelt gut. Draußen: Jodorowsky-hafte, expressionistisch-gefärbte Gestalt mit Maske statt Gesicht; drinnen: warmer Power-House. Korrespondenz und Überlagerung der Bedeutungsebenen entsteht. Plötzlich wirkt ein Track wie »QMD« mit seinem Acid-Lines und dem Glockenspiel geheimnisumwittert und unheimlich; Geisterstunden-Musik für heimgesuchte Tanzflächen. Auch die Streicher in »Diet 505« werden sibyllenhaft, wenn vorne Doppelgesichtigkeit angedeutet wird. Das okkulte Motiv hat hier selbstverständlich Auswirkungen auf die Rezeption der Platte, selbst wenn die B-Seite eher nach südamerikanischer Chicago-Interpretation klingen mag. Aber war da nicht mal was mit magischem Realismus?!

Ganz anders hält es das formidable Tara Clerkin Trio; ohnehin eine der besten Bands der letzten Jahre. Die Bedeutung wird nicht erweitert, sondern konzentriert: Hier heißt es »In Spring EP« und außen grüßen unscharfe Kirschblüten. Je länger man jedoch schaut, desto mehr erscheint der Grund dieses vermeintlichen Fotos eine Leinwand zu sein, die Farbflächen doch Ergebnis von Pinselstrichen; Gerhard Richter lässt grüßen.

Mit (Un-)Wahrscheinlichkeiten spielt auch das Trio in seiner Musik. »Done Before«, der Opener beginnt mit diesen stolpernden Klavieranschlägen, die sich sanft schütteln und in einen Sample-Loop übergehen — und dann von der wachen Stimme der Bandleaderin aufgefangen zu werden.

Auf dieser frühlingshaften Platte tanzt alles so wahnwitzig genial durcheinander, fällt, wird vom Wind weggetragen und vermehrt sich gutmütig in hunderte Sprossen. Dann schieben sich Celli rein, Stimmen überlagern sich, es wird auch mal dissonant. Hätte Strawinsky Pop-Musik machen wollen, wäre er vielleicht gar nicht in der Lage gewesen, so spielerisch zu inszenieren. Während man mit Begeisterung hört und das Cover gar nicht mehr aus der Hand legen möchte, so perfekt ist das alles!, beginnt schon erst das zweite Stück. »In Spring EP« hat in den ersten acht Minuten Ideen für ganze Diskografien zu bieten. Während die Glückstränen in den Augen die Kirschblüten wiederum nachglätten (minus mal minus gleich plus?), erinnert man sich vage daran, dass jede Platte zwei Seiten hat und hofft, die B-Seite möge bitte genau so gut sein. Keine Angst, »Memory« ist mit den Heimorgel-Sounds, den warmen Klarinettenriffs und dieser dronigen Pastiche fast noch besser.

Hätte man das alles auch ohne Cover so wahrnehmen können?

Ja, klar. Es kommt den beiden beschriebenen Covern dennoch eine besondere Rolle zu. Wirken sie nicht etwa wie Tripsitter, wie wissende Begleiter, die immer dann mit Rat und Tat zu Seite stehen, wenn man gedanklich in eine Sackgasse gerät? Genau, gute Cover bieten im besten Falle das nötige Set und Setting für den Trip, der Musik durchaus noch sein kann.

Lipelis X TMO, »Function as a Meaning« (S108)
Tara Clerkin Trio, »In Spring EP«, (World Of Echo/Clone)