»Unsere Meinung wird bisher konsequent ignoriert«: Xueling Zhou

»Frau Gebauer hat sich nie für uns interessiert«

Schülervertreterin Xueling Zhou über den wachsenden Protest der Jugendlichen in der Pandemie

»WirWerdenLaut« — unter diesem Hashtag haben Schüler*innen bundesweit eine Petition gestartet. Was wollen sie erreichen?

Bislang gab es keine Maßnahmen, um uns wirklich zu schützen. Das lassen wir uns nicht mehr gefallen! Wir fordern, dass mit uns statt über uns gesprochen wird. Es muss kleinere Lerngruppen und mehr Schul­psycho­log*­innen geben. Und die PCR-Kapazitäten für Schulen müssen ausgebaut werden! Kompletten Distanzunterricht ­können wir wegen der sozialen Ungerechtigkeit nicht verantworten, Präsenzpflicht geht aber auch überhaupt nicht. Wir fordern das Recht auf eigene Entscheidungen, damit jede Familie selbst abwägen kann, wie hoch ihre Risiken sind. Aber Eigenverantwortung und Individualität ist im Schulsystem nicht vorgesehen.

In einem Monat steht das Abitur an. Die entscheidenden beiden Schuljahre mussten Sie unter Pandemie-Bedingungen absolvieren. Wie fühlt sich das an?

Ich möchte Medizin studieren. Derzeit stehe ich bei 1,2 — das reicht aber nicht. Es ist viel Stoff und Unterricht ausgefallen, und auch im Distanzunterricht haben wir deutlich weniger gelernt. Ich habe große Angst, dass in der Prüfung etwas drankommt, was wir gar nicht oder nicht ausführlich behandelt haben.

Jede Schule und Lehrkraft ist unterschiedlich mit dem Distanzunterricht umgegangen. Sind zentrale Abschlussprüfungen überhaupt geeignet?

Auf keinen Fall! Das wäre furchtbar ungerecht! Eine unserer Forderungen ist, dass es dezentrale Abschlüsse geben muss. Das heißt, dass die Lehrkräfte die Abitur-Aufgaben stellen, weil nur sie wissen, welcher Stoff wirklich behandelt wurde. Wir möchten das Thema aber auch grundsätzlich angehen: Abschlüsse und Noten waren noch nie gerecht.

Wie sieht es mit Chancengleichheit an Ihrer Schule aus?

Das Genoveva-Gymnasium liegt in Mülheim und hat einen Sozialindex von 5, das heißt, viele Familien sind sozioökonomisch nicht stark aufgestellt.
Wir haben schnell bemerkt, dass die Lehrkräfte nicht wussten, wie sie mit digitalen Endgeräten und Methoden umgehen sollen. Die Schüler*innen aber sehr wohl! Wir haben den Spieß umgedreht und den Lehrer*innen Fortbildungen gegeben. Danach hat es gut geklappt. Aber ich habe mitbekommen, dass es an vielen Schulen katastrophal war. Es gibt keine einzige Ausrede mehr, dass es immer noch Schulen gibt ohne anständige Endgeräte, technischen Support oder digitale ­Lehrmethoden.

Auch vor Corona war das deutsche Bildungssystem nicht gut darin, soziale Ungleichheiten auszugleichen. Was muss sich ändern?

Unser Bildungssystem ist veraltet, wir müssen es völlig umkrempeln. Schüler*innen sollen inklusiv lernen und unabhängig vom sozioökonomischen Hintergrund individuelle Betreuung erfahren. Und natürlich: Noten abschaffen, kleinere Klassen, mehr Lehrkräfte, digitale Infrastruktur und Lehrmethoden stärken, das Lehramtsstudium anpassen. Das System ist leistungsbezogen und defizitorientiert. Zugespitzt kann man sagen, dass die Schule eine Fabrik ist, in der wir zurechtgebogen werden, für individuelle Entfaltung ist kaum Platz. Wenn ich z. B. in Mathe gut bin, aber in Deutsch weniger, dann geht es immer nur darum, wie ich mich in Deutsch verbessern kann, anstatt mich in meinen Talenten zu fördern.

Und die Schule sollte auch Spaß machen!

In der öffentlichen Diskussion geht es meist um Bildungslücken und weniger um das psychische Wohlbefinden. Das muss sich ändern! Neulich hat mir jemand erzählt, dass er kurz vor dem Abitur abbricht, weil er den Druck nicht mehr aushält. Es ist erschreckend, dass junge Menschen ihre Zukunft verschleudern, nur weil die Politik es nicht hinbekommen hat, uns zu schützen.

Stehen Sie im Austausch mit dem Schulministerium?

Frau Gebauer lädt uns seit einem Jahr nicht mehr zu den Verbandsgesprächen ein, also den regelmäßigen Treffen von Schulleiter*innen, Eltern- und Lehrerverbänden. Unsere Meinung wird bisher konsequent ignoriert, wir sind ja nur Schüler*innen. Dabei geht es um uns: Unsere Zukunft, unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden. Frau Gebauer hat sich nie für uns interessiert. Wenn ich ihr eine Schulnote geben müsste, dann eine glatte 6. Wir hoffen, dass nach der Landtagswahl endlich mit uns geredet wird statt über uns.

Auch auf kommunaler Ebene läuft einiges schief. So hat die Stadt Köln gerade bekannt gegeben, dass sich wegen Verfahrensfehlern die Anschaffung der Luftfilter deutlich verzögert.

Wenn ich im Landtag bin und sehe, dass überall Luftfilter und Plexiglas-Scheiben zum Schutz der Abgeordneten aufgestellt sind, dann werde ich richtig wütend. Wir sind 30 Leute in der Klasse und das einzige, was uns schützen soll, ist die Maske, die wir selber kaufen müssen. Die Landesregierung hätte die Zeit der Schulschließungen nutzen müssen, um Luftfilter anzuschaffen, die digitale Infrastruktur auszubauen, neue Stellen zu besetzen, Lehrkräfte fortzubilden. Das ist alles nicht passiert. Die Schließungen waren eine Symptombekämpfung, ohne die Ursache anzugehen. Manchmal frage ich mich: Sind wir umsonst so lange zu Hause geblieben?

Xueling Zhou
Die 17-Jährige ist im Vorstand der Landes­schüler*innen­vertretung NRW und war bis 2021 Schülersprecherin des Genoveva-Gymnasiums, wo sie dieses Jahr Abitur macht. Die Schule in Köln-Mülheim wurde 2011 für ihre Integrationsleistung mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet.