Unsicherer Hafen

Eigentlich wollte Köln seine Sammelunterkünfte für Geflüchtete endlich schließen. Doch nun kommen wieder mehr Menschen in der Stadt an, vor allem aus Afghanistan und Syrien. Müssen sie bald wieder in Turnhallen schlafen? Und was bringen all die Angebote Kölns, Gerettete aus Seenot aufzunehmen, wenn die Bundesgesetze das gar nicht erlauben?

»Niemand wird dieses Jahr in Turnhallen schlafen müssen! Davon sind wir weit entfernt!«, ruft Josef Ludwig. Ludwig leitet das Kölner Amt für Wohnungswesen und ist unter anderem dafür zuständig, Geflüchtete in Köln unterzubringen. Dass Ludwig diese Sätze überhaupt sagen muss, hätte vor wenigen Monaten noch für Überraschung gesorgt. Die Zahl der Geflüchteten, die nach Köln kommen, war jahrelang gesunken. Nach den Krisenjahren 2015 und 2016, als Woche für Woche Hunderte Menschen in Köln ankamen und die Stadtverwaltung sie in Turnhallen, Leichtbauhallen und sogar einem Baumarkt in Porz unterbrachte, hatte sich die Lage für die Geflüchteten gebessert. Die Mehrheit lebt in der eigenen Wohnung oder einer »abgeschlossenen Wohneinheit« mit eigenem Bad und eigener Küche.

Unter dem Eindruck der Corona-Pandemie beschloss der Rat im Februar vergangenen Jahres, auch die noch vorhandenen Sammelunterkünfte nach und nach aufzulösen, um allen Geflüchteten eine menschenwürdige Unterkunft mit ausreichend Privatsphäre zu garantieren. Doch es war kein Jahr vergangen, schon droht der Beschluss wieder zu kippen: Die Vorgabe des Rates könne »nicht mehr garantiert werden«, teilte die Verwaltung Anfang Januar mit. Es sei vielmehr mit »einer Absenkung unter das bereits 2021 erreichte Ziel von 85 Prozent zu rechnen«.

Was war passiert? »Seit November 2021 kommen wieder mehr Geflüchtete nach Köln«, so Ludwig. Afghanische Ortskräfte, insbesondere Familien mit minderjährigen Kindern kämen derzeit in Köln an, aber auch Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak. Im November hatte das NRW-Ministerium für Flüchtlinge die Kommunen angeschrieben und gewarnt, dass die Zahlen anhaltend steigen. Man stelle sich darauf ein, dass Köln pro Woche 50 bis 60 Geflüchtete zugewiesen würden, so Ludwig. »Das hat natürlich einen Einfluss auf unsere Ziele.«

Kein Mensch von einem ­Rettungsschiff wurde auf Rekers Ruf
hin nach Köln geschickt

 

In der Politik kam Ludwigs Mitteilung nicht gut an. »Nur die Tatsache, dass wieder mehr Geflüchtete kommen, kann kein Grund dafür sein, ein Menschenrecht nicht zu realisieren«, sagt Dîlan Yazicioglu, migrations­politische Sprecherin der Grünen im Kölner Rat. In der Sitzung des Sozialausschusses Mitte Januar verdonnerten die ­Grünen mit ihren Bündnispartnern CDU und Volt die Verwaltung, unbedingt am Ratsbeschluss festzuhalten. Ludwig muss nun darlegen, wie er das trotz steigender Zahlen schaffen will. »Man kann sich doch nicht allein auf äußere Faktoren wie sinkende Zuweisungszahlen oder das Ende der Corona-Pandemie verlassen«, so Yazicioglu. Auf Antrag von SPD und Linkspartei soll nun das »Auszugsmanagement« personell aufgestockt werden. Erstmals sollen gelernte Immobilienfachleute direkt beim Amt für Wohnungswesen eingestellt werden und sich ausschließlich um Wohnungsakquise kümmern.

Erstmals seit Jahren lässt Ludwig auch Flächen für den Neubau von »Systembauten« prüfen. Außerdem hofft er auch deshalb auf ein baldiges Ende der Corona-Pandemie, weil dann zwei derzeit als Quarantänestandorte genutzte Unterkünfte in Lindweiler und Roggendorf-Thenhoven normal belegt und alle Unterkünfte wieder voll ausgelastet werden können.

Ludwig sagt aber auch: »Wenn die Pandemie weiter anhält, und ich keine Flächen finde für die Systembauten, wird es mit der Zielerreichung schwer.« Ludwig rechnet 2022 mit einem Plus von 1800 Geflüchteten. Zurzeit hält die Stadt eine Unterbringungsreserve von 1300–1400 ­Plätzen vor. Kann die Stadt nicht genug neue Unterkünfte auftreiben, ist die Reserve schon vor Jahresende aufgebraucht — und es müssen wieder Flüchtlinge in Leichtbauhallen schlafen, die auch zum Kontingent gehören. Sie bieten nur wenig mehr Privatsphäre als Turnhallen.

Claus-Ulrich Prölß, Geschäftsführer des Kölner Flüchtlingsrats, ist entsetzt, dass die Verwaltung die Auflösung der Sammelunterkünfte schon wieder infrage stellt. »Spätestens seit dem vergangenen Sommer hätte der Anstieg jedem klar sein müssen. Ein einfacher Blick in die Statistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge genügt.« Auch Prölß wirft der Stadt vor, man habe allein auf sinkende Zahlen gesetzt. Dabei zeigen zahlreiche Studien seit langem, dass Migration in Wellen verläuft. »Es gab von Anfang an keinen Plan für die Auflösung der Gemeinschaftsunterkünfte«, sagt er.

Dabei ist die Lage für die Geflüchteten schon jetzt schlechter, als die Stadt sie darstellt. Ende 2021 habe man eine Quote von 83,75 Prozent Unterbringungen in ab­­ge­schlossenen Wohneinheiten erreicht, so Amtsleiter ­Ludwig. Doch in dieser Zahl — wie auch in den Zahlen der quartalsweise herausgegebenen Flüchtlingsberichte — tauchen Hunderte Fälle gar nicht auf: Die Erstaufnahme

in der Herkulesstraße in Neuehrenfeld, in der Anfang ­Februar 317 Menschen leben, und die sogenannten Beherbergungsbetriebe, fließen in die Statistik nicht ein. In den teils heruntergekommenen Hotels gibt es meist keine Küchen, auch sie erfüllen in der Regel nicht die Anforderungen des Ratsbeschlusses. Hier leben derzeit 263 Menschen. Zählte man sie hinzu, stünde Köln mit seiner Quote nicht mehr so gut da.

»Wenn die Stadt schon bei einem moderaten Anstieg der Zahlen wie in den vergangenen Monaten den Ratsbeschluss wieder in Frage stellt, muss man auf alles gefasst sein«, fürchtet Claus-Ulrich Prölß vom Flüchtlingsrat. »Im schlimmsten Fall auf Turnhallen.«

Vor allem die größte Kölner Gemeinschaftsunterkunft in der Herkulesstraße in Neuehrenfeld steht seit langem in der Kritik. Im Januar 2021 war es dort zu einem Corona-Ausbruch gekommen, das gesamte Haus stand mehrere Wochen unter Quarantäne. SPD, Linke, Klimafreunde und Gut forderten, die Unterkunft schnellstmöglich zu schließen. Das aber wollte das Ratsbündnis nicht. Und OB Henriette Reker argumentierte, dass Köln eine solche Notaufnahme für Menschen, die gerade frisch nach Köln gekommen sind, brauche.

»Die Herkulesstraße muss als erstes aufgelöst werden«, beharrt Jörg Detjen, sozialpolitischer Sprecher der Linken. Die ehemalige Kfz-Zulassungsstelle war vor  elf Jahren als Übergangslösung für 70 bis 80 Menschen gedacht. Inzwischen ist sie fester Baustein im Kölner Unterbringungskonzept. Zeitweise lebten hier bis zu 700 Menschen. »Unmenschlich, unübersichtlich, unzumutbar«, sagt Detjen über die Notaufnahme, in der laut Stadt vor allem »unerlaubt eingereiste Personen« aus den Balkanstaaten untergebracht werden. Marginalisierte Minderheiten hätten wenig Rückhalt in Politik und Stadtspitze, so Detjen. »Die Stadt sperrt Sinti und Roma in der Herkulesstraße weg. Auf diesem harten Weg wollen sie bleiben.«

Ossi Helling hat als ehemaliger sozialpolitischer Sprecher der Grünen vor knapp 20 Jahren die »Kölner Leitlinien zur Unterbringung und Betreuung von Geflüchteten« mit erstritten. Nach den Jahren der Abschreckungspolitik, die in den menschenunwürdigen Zuständen im Roma-Containerlager in Kalk und den im Deutzer Hafen liegenden Flüchtlingsschiff »Transit« gipfelten, wollte der Rat 2003/2004 die Flüchtlingspolitik neu ausrichten. Laut den Leitlinien sollten Geflüchtete dezentral über das Stadtgebiet verteilt werden, idealerweise in abgeschlossenen Wohneinheiten. Sammelunterkünfte sollten nur für kurze Zeit und nur mit maximal 80 Menschen belegt, vulnerable Menschen besonders geschützt werden.

Sammelunterkünfte seien vor Corona inakzeptabel gewesen, jetzt erst recht, sagt Ossi Helling. »Dass es solche Häuser fast 20 Jahre nach der Verabschiedung der Kölner Leitlinien überhaupt noch gibt, ist erschreckend.« In der Ankündigung des Wohnungsamtes erkennt er »das eklatante Fehlen von strategischer Planung von langer Hand« und einen »Rückschritt in eigentlich längst überwundene inhumane Zeiten«.

Während es in Köln kaum gelingt, selbst gesetzte Mindeststandards einzuhalten, hat sich die Stadt gleichzeitig zum »Sicheren Hafen« für Geflüchtete erklärt. Im Sommer 2018 hatten sich Henriette Reker und die Oberbürgermeister von Bonn und Düsseldorf bereit erklärt, aus Seenot gerettete Menschen aufzunehmen. Anfang 2019 erklärte sich auch der Rat solidarisch und beschloss, Geflüchtete von den Rettungsschiffen aufzunehmen. Es folgten weitere Resolutionen, etwa zur Aufnahme von Geflüchteten aus dem Lager Moria auf Lesbos und aus der polnisch-belarussischen Grenzregion.

Konkrete Folgen hatten diese Erklärungen allerdings nicht. Kein Mensch von einem Rettungsschiff oder aus Belarus wurde auf Rekers Ruf hin direkt nach Köln geschickt, das Bundesaufenthaltsgesetz erlaubt das auch nicht. Bloß: Was bringen die schönen Worte, wenn daraus nichts folgt? »Das Bundesgesetz blockiert, das stimmt«, sagt Simon Dornseifer von der Seebrücke, auf deren Kampagne hin sich mehrere Kommunen in Deutschland zu »Sicheren Häfen« erklärten. »Allerdings reißt sich Köln auch kein Bein aus, um mehr Druck auszuüben.« So sei Köln im Bündnis der deutschen »Städte Sicherer Häfen« kaum aktiv. Auch bei einer europaweiten Konferenz im vergangenen Jahr in Palermo, wo man sich über Möglichkeiten zur Aufnahme von Flüchtlingen in der EU austauschte, war Köln nicht vertreten. »Köln betreibt Symbolpolitik«, so das Fazit von Simon Dornseifer.

Das Kommunalpolitische Forum NRW,  dem die Kölner Linkspartei angehört, arbeitet derzeit an einem Gutachten, das den Handlungsspielraum der Kommunen in der europäischen Flüchtlingspolitik auslotet. »Es gibt sehr wohl Nischen«, sagt Jörg Detjen, der sich als »Fan kommunaler Außenpolitik« bezeichnet. Man könne einen Verein gründen, der Menschen in Seenot finanziell unterstützt. Doch zurzeit ist Köln nicht einmal für alle Geflüchteten, die es schon in die Stadt geschafft haben, ein sicherer Hafen.