Meditieren als Geräusch: Sleazy Christopherson

Abschied vom Spuk

Neues von Sleazy ­Christopherson und Intimspray

Neues von Intimspray? Ja, genau. Was klingt wie ein schlechter Witz ist bloß ein selten bescheuerter Bandname. Sonst ist alles bei der bereits 1979 im fernen Innsbruck gegründeten Band im Lot. Nach 35 Jahren Pause nun neue Lebenszeichen aus der Versenkung. Und wie tönt es sich etwas betagter und gesetzter? Exakt wie anno dazumal. Auf der »Religion EP« wird der Ska ordentlich gepumpt und die Wave gesurft. Nicht ohne Grund gelten Intimspray als eine der allerersten Austro-Wave-Bands überhaupt. Aus Innsbruck war man dennoch schon früh in die florierende Münchner Szene umgezogen. Dort, zwischen Bands wie Freiwillige Selbstkontrolle und ZSD, fühlte man sich pudelwohl — die Stadt brannte ja befeuert durch Munich Disco und Freddie-Mercury-Trubel lichterloh. Im Gegensatz zu FSK und Thomas Meinecke gerieten Intimspray in Vergessenheit. 1984 löste man sich auf Grund von Streitigkeiten um die zweite LP kurzerhand auf. Vorher hatte man alles mitgenommen, was ging: WOM-Festival in der enormen Münchner Olympiahalle, Bravo- sowie Sounds-Artikel etc. pp.

Vielleicht wurden sie auch Opfer des eigenen Erfolgs; Mutmaßungen sind hier und heute aber egal, denn das Comeback ist gut. Der (vor-)alpine Wave hatte immer seinen eigenen Charme; daher ja auch die wichtige Unterscheidung zwischen der Sauerland- und Hansestadt-dominierten Neuen Deutschen Welle und dem pfiffigen Austro-Ding. Gerade mit dem Abstand der Jahrzehnte sind die Werke der Österreicher (und auch der Münchner) viel besser gealtert. Plattenkistenwühler und musikalische Golddigger können das bestätigen. Die »Religion EP« überzeugt dementsprechend mit Witz: »Lügen haben lange Beine, und auch deine sind dabei. Deine Beine sind die längsten — ist mir nicht neu«, heißt es da über einen fidel-einfachen Beat und ein verlässliches Gitarrenriff.

Ein Zeitgenosse der Intimsprayer war Peter Sleazy Christopherson. Der 2010 in Bangkok gestorbene Throbbing Gristle- und Psychic TV-Mitgründer, Coil-Mitglied und Video-Regisseur nahm folgende erstmals in größerem Umfang verfügbaren Stücke als The Threshold Houseboys Choir auf. Das war 2007; kurze Zeit davor war sein bester Freund und Coil-Bandkollege John Balance bei einem Unfall auf der Treppe des gemeinsamen Hauses gestorben.

Trotz der außerordentlichen Stellung, die alle Band-Projekte an denen Sleazy Christopherson beteiligt war, in der Popgeschichte einnehmen, sind die fünf Stücke der »Form Grows Rampant«-EP von besonders herausragender Qualität. Die spukhaften, computergenerierten Stimmen, die sich durch die langsam dahingondelnden Tracks ziehen, fesseln ab Sekunde Eins. Manchmal erkennt man Muster, dann meint man sogar echte, wahre Sprache — zumindest in Fetzen gerissen und zusammengekleistert — zu vernehmen, bloß um enttäuscht zu werden. Insgesamt klingt »Form Grows Rampant« wie die Einlösung eines Versprechens, das die Band Radiohead uns Jahre zuvor gab: Die Zukunft der Musik, wie man sie in »Kid A« angedeutet hört, steht uns nun offen!

Diese Formen, die Christopherson hier findet, sind in einer Ahnenreihe mit den Radioheads, aber so formidabel ausgeführt, verschroben, neuartig — »Kid A« klang bei weitem nie so faszinierend, so groß. Nicht von der Hand zu weisen ist derweil, dass Christophersons Five-Tracker das Format EP ausreizt. Immerhin handelt es sich um ins­gesamt 49 Minuten Musik. Was bedeutet dann überhaupt noch »Extended Play«, was »Long Play«?

Klar, diese Frage ist gleich mehrfach in den nun 19 Ausgaben dieser Kolumne angesprochen worden. »Alles Außer Alben«: Wer entscheidet überhaupt, wie das Werk eines Künstlers einsortiert, vermarktet, verkauft wird? Liegt das alles noch in der Hoheit der Musiker*innen, oder ist das längst outgesourct und alleinig in der Gewalt großer Plattformen und Dienstleister? Beantworten werden wir das hier vorerst nicht mehr.

Die Geschichte sollte einst ganz anders aussehen: Als die erste AAA-Kolumne im Juli 2020 an den Start ging, da war die erste Corona-Welle in Deutschland frisch durchstanden, Konzerte fanden draußen statt, sogar Partys liefen wieder. Man traf sich mit Freund*innen, diskutierte mit ihnen über Musik und deren (Vermarktungs-)Formen in einer durchdigitalisierten Welt. Wir fragten uns, ob das Kurzformat die Zukunft der Musik sein könnte.

Was folgte, waren dann aber gleich mehrere Wellen der weltweiten Pandemie; Stop’n’Go-Verfahren für die Kultur, die längst nicht mehr selbst entscheiden durfte, wann sie überhaupt noch Inhalte produzieren und präsentieren möchte, jedenfalls nicht live; Lieferketten-Probleme bei Papier, Pappe, Acetat- und Vinyl; selbst bei ehedem krisenresistenten Musik-Kassetten hieß es »Land Unter«; jetzt die Musikerproteste gegen Spotify; und und und.

Es scheint nur logisch, diese Kolumne auf Eis zu legen; bis die (Musik-)Welt zumindest halbwegs in Ordnung gekommen ist und man Aussagen über den Zustand der Musikszenen tätigen kann, die nicht Tage später schon Makulatur geworden sind.

Dennoch, und das liegt ausschließlich am positiven Feedback, das es für diese Kolumne gab, verschwinden die Rezensionen der Formate jenseits der LP nicht ganz. Sie wandern ins Clubland, das ich mittlerweile mit Kollege Venker bewirtschafte. Dort wird der Fokus auf Veröffentlichungen aus dem erweiterten Feld »Club- und elektronische Musik« liegen, aber ganz wird der Geist dieser Kolumne nicht verschwinden.

Tonträger, Intimspray, »Religion« (Delle / 375 Vertrieb), bereits erschienen The Threshold Houseboys Choir, »Form Grows Rampant« (Musique Pur La Danse), bereits erschienen