Gelenkte Wahl: YĪN YĪN

Berechneter Geschmack

Kennt ihr Midori Takada? Yasuaki Shimizu? Oder Elephant Chateau, Mort Garson und YĪN YĪN? Falls ja, Glück gehabt!

Und falls nicht? Dann rollen wir das Feld jetzt mal von hinten auf. Im­­merhin versteckt sich hinter dem Namen  YĪN YĪN eine mehr als respektable niederländische Band, die auf bewunderswert spielerische Art Jazz- und Funk-Traditionen aus Europa und den USA mit Musikstilen des asiatischen Kontinents kurzschließt. Dafür bedienen sich die Musiker bei Volksmusiken aus Süd- und Südostasien: Sie synthetisieren auf eigenwillige Weise Bekanntes einerseits, andererseits Unbekanntes und Exotisches. Dieser Tage erscheint ein zweites Albums des vierköpfigen Kollektivs aus Maastricht — ihren Durchbruch feierten sie derweil mit ihrem Debüt »The Rabbit That Hunts Tigers«, das 2019 bei Bongo Joe erschien.  YĪN YĪN-Tracks stehen für spannende Mischformen, Tanzbarkeit und Schwung; nur manchmal neigt ihr Sound zu hippieesken Klischees. Trotz aller Güte soll es an dieser Stelle weniger darum gehen, was man hört, als viel mehr um das »How come«.

Dafür lohnt sich ein Blick in die jüngste Vergangenheit. Schon um die Jahrtausendwende verloren die Musikmagazine — hierzulande Spex und die De:Bug — an Bedeutung. Mit dem Aufkommen von Napster, Myspace, Foren und Blogs, war ihre Rolle als Gatekeeper abkömmlich geworden. Das (selbst-)organisierte Internet zeigte sich sehr virtuos darin, neue Bands für neue Hörer*innen zu erschließen. Die Arctic Monkeys sind immer noch die herausragende Band, die am eindrücklichsten gezeigt hat, wie man von der Schülerband zum Festivalheadliner innerhalb eines Wimpernschlags werden konnte. 2005 folgte der Launch von Youtube, 2006 schon Spotify — es wurde immer deutlicher, welche Rolle Streaming einnehmen würde. Wie dies funktionieren könnte, das war dann aber doch nicht ganz geklärt. Fast Forward ins Jahr 2015: Die Oberfläche von Youtube zeigt immer gezielter interessante Inhalte an. Nach Jahren voller Fail-Videos, süßen Kindern, egomanen Figuren und allerlei Schabernack wurden nun ernsthafte Musiker*innen und ihre Werke vorgeschlagen und in die Timeline gespielt. Eindrücklicher Beweis dafür war nicht etwa der K-Pop-Hit »Gangnam Style«, der auch ohne die Plattform seinen Weg in die globalen Charts gefunden hätte, sondern das zu diesem Zeitpunkt 32 Jahre alte Werk der japanischen Komponistin Midori Takada.

»Through The Looking Glass« wanderte durch die Recommendations bei YouTube, wie ehedem der »Sneezing Panda«. Was mittlerweile ein moderner Klassiker ist, war vor sieben Jahren eine wahre Entdeckung. Ähnliches geschah mit dem Instrumental-Synthesizer-Meisterwerk »Plantasia« des kanadischen Komponisten Mort Garson, das bereits 1974 erschienen war; die Single »Dreamings« der Schweizer Wave-Gruppe Elephant Chateau und auch der in Japan durchaus bekannte Saxofonist Yasuaki Shimizu wurden plötzlich in zig Foren, beim Plattenhändler und in Bars diskutiert. Allesamt einte sie der späte Ruhm, den die Video-Plattform des Google-Unternehmens zu verantworten hat.

User, die bloß ihre digitalisierte Plattensammlungen präsentieren wollten, wurden auf einmal Ge­­schmacksträger, der feiste Dealer blieb aber ein Algorithmus, dessen Grundlage niemand wirklich verstand. Dennoch: Der Erfolg war offensichtlich. Millionen Plays waren keine Seltenheit, Neuauflagen auf Vinyl folgten.

Doch ganz unbestechlich scheinen die Computerprogramme, die im Hintergrund entscheiden, was einem nun empfohlen wird, doch nicht zu sein. Forced Choice nennt man das in der Forschung und bedient sich eines Begriffs aus der Zauberei, mit dem Illusionisten schon seit Jahrhunderten Leute dazu bewegen, die richtige (angeblich freie) Entscheidung zu treffen. Ziel ist stets das möglich lange Verweilen auf der Seite —die ein oder andere Werbemaßnahme soll man gleich mitnehmen. Das Motto ist klar: Aus through the looking glass soll man down the rabbit hole gehen, um in den Bildern von Alice im Wunderland zu bleiben.

Ein weiteres Phänomen stellt der amerikanische Jazz-Virtuose Jacob Collier dar. Der 27-jährige Collier, ausgestattet mit absolutem Gehör und der Fähigkeit, recht komplizierte musikalische Theorien mit simplen Worten und Geräuschen aus Mund, Nase und Händen darzustellen, begann noch konventionell mit First Wave-YouTube-Videos. So präsentierte er halbwegs bekannte Songs und spielte entweder alle Instrumente nach und nach ein, oder imitierte sie mit komischen Geräuschen. Zusammengeschnitten und geloopt ergaben sich so kleine Klick-Wunder. Collier wurde immer bekannter, mittlerweile hat er für nahezu jede Plattform eigene Inhalte generiert. Radio-Konzerte gehören genauso dazu wie Diskussionen mit Altmeister Herbie Hancock. So makellos das ist, so wenig innovativ ist Colliers eigene Musik, die aber im Windschatten des Internet-Ruhms sogar das Palladium in Köln füllen soll. In den USA sind es schon die größten Hallen des Landes. Auch hier haben Algorithmen zum Erfolg geführt — wer einmal eine Jazz-Platte bei YouTube angehört hat, wird fast unweigerlich zu Collier weitergeführt.

Auch für  YĪN YĪN klappte es auf diesem Wege. Verkaufte sich ihre Platte die ersten Monate schleppend, konnte ein Video des Roberto-Bolaño-Fans und Users »2666« den Durchbruch bringen. Drei Monate nach Erscheinen der Debüt-LP war kein Halten mehr. Das Video ratterte durch die »Empfohlen-Listen« und schon schnell war die erste Millionen an Klicks gesichert. Musikalisch nicht zu Unrecht, kein Widerspruch. Aber die Frage bleibt doch: Ist das noch eine freie Entscheidung — oder sind diese Zeiten längst vorbei?