Großes Finale auf allen Kanälen: Molière als gebrochene Fernsehfigur, Foto: Thomas Aurin

Die Wanne ist voll

Altmeister Frank Castorf stürzt sich in eine überbordende Hommage an Molière

War zuletzt noch Religion das Opium des Volkes, ist es auf derselben Bühne jetzt das Theater. Zusammen mit anderen Zerstreuungen sorgte es zur Zeit des Ancien Régime dafür, dass die Gedanken positiv blieben und nicht aus Langeweile um die Abgründe des menschlichen Daseins kreisten. Molière jedenfalls verstand die Rolle, die seine Zunft zu spielen hatte — weniger, um der Monarchie über die Runden zu helfen, als Essbares auf dem Teller zu haben und eine feste Spielstätte.

Kurz nachdem er in einem surrealen Krippenspiel aus Michail Bulgakows Molière-Roman eine Heldengeburt erlebt, bereits dem Tode geweiht, begegnet er uns als müder Spielleiter, der die Proben zu einem eilig verfassten Stück anberaumen will. Es könnte die Eintrittskarte zu einem besseren Leben sein, wird die Truppe doch damit am Königshof erwartet. Aber die Schauspieler sträuben sich und er rastet aus. Molière lieferte mit diesem »Stegreifspiel von Versailles« einen Blick hinter die Kulissen. Bruno Cathomas, grotesk als Edelmann geschminkt, brüllt, was das Zeug hält, und sorgt dafür, dass er als Molière-Besetzung erstmal für einen schlechten Witz gehalten wird.

»Molière — Ich bin ein Dämon, Fleisch geworden und als Mensch verkleidet« ist ein fünfstündiger Frank-Castorf-Abend, drei Jahre nach seiner Kölner Inszenierung »Ein grüner Junge«. Dass er Dämon sei, war natürlich ein Scherz Molières, der damit Beschimpfungen der Kritiker seines »Tartuffe« aufnahm. Molière ist übrigens der einzige, an den man sich bei Castorf halten kann. Wer sonst gerade wer ist und in welchem Stück, ist nicht immer leicht zu entscheiden. Die Collage aus Szenen und Texten hat nun mal keine Fußnoten. Die üblichen Grenzen und Markierungen, auch zwischen Rolle und Wirklichkeit, sind aufgehoben.

Hauptdekorationen im linkslastig bespielten Depot sind rechts, zwei Innenkulissen verdeckend, eine Wand empörter französischer Zeitungsleser und eine mobile Jahrmarktbühne, bevor sie einer Schisha-Bar weicht. Links steht erstmal Molières Citroen-Kleinlaster, weiter hinten das Klavier. Eine Dunstwolke liegt darüber und LED-Fluter blenden einen guten Teil der Zuschauer, wenn es nicht die Videoprojektoren tun.

Die Ensemble-Schauspieler sprechen immer wieder zum Publikum, darunter Neuzugang Kei Muramoto, der als Erfinder des japanischen Butoh-Tanzes dessen Entwicklung so aufgeregt schildert, als spreche er für die Rolle seines Lebens vor. Den Ausdruckstanz hat er bereits Jeanne Balibar beigebracht, die ihn während des fieberhaften Exkurses recht unscheinbar ausführt.

Balibar spielt eine Essenz der Figuren, die bei Molière im standesbewussten Frankreich spät im Leben zu mehr Kultur aufstreben. Denn mit fein gebildetem Auftreten lässt sich vieles bewegen. Jourdain aus »Der Bürger als Edelmann« ist hier eine Frau. Der Fechtunterricht findet nackt statt: Castorf lässt Jourdain mit ihren Lehrern in ein vor Blicken sicheres Badezimmer entfliehen. Jedes Detail der abstandsfreien Pool- und Fechtparty samt Gelehrtenstreit wird allerdings von einem Kamerateam live übertragen. Balibar, neben ihrer Filmkarriere eng mit Castorf und seinen Inszenierungen verbunden, spielt auch Molières Lebensgefährtin Béjart und pendelt so zwischen lasterhaft-sinnlich und preziös-dümmlich. In dramatischen Szenen umwerfend, geht ihr für die Molière-Komik eine für deutsche Ohren überzeugende, unmissverständliche Vortragsweise ab.

Mit einem postmodernen Anstrich versehen, leiden die Adaptionen ohnehin unter einer Trägheit und Zerrissenheit, die sie weitgehend ihrer ursprünglichen Wirkungen beraubt. Castorf zielt auf anderes ab, er sucht die bildhaften Momente der Poesie und Ekstase durch die Zusammenwirkung gestalterischer Elemente, inmitten derer die Dialoge und Aktionen einen Gipfel an Intensität erreichen. Stimmungsvolle, rhythmisch geschnittene Video-Livebilder werden als Erlebnis-Verstärker eingesetzt, die beiden Kameras von den Schauspielern angespielt, während die großartige Musikauswahl, oft live am Klavier improvisiert von Marlies Debacker, begleitet und Impulse setzt.

Der vielbeschäftigte Bruno Cathomas stand wohl nicht für den ganzen Abend zur Verfügung. Aber nach einer Rückkehr Molières gegen Ende der zweiten Hälfte, der noch zwei Drittel des Publikums beiwohnen, wird in einem sportlich mitgefilmten Finale um den Laster doch noch sein Leben durchgehechelt, unterlegt von Händels Sarabande. Wie zu Beginn, nach Bulgakow, mit einem Augenmerk auf Krankheit, Leid und Tod: Themen, die das Volk im Theater vergessen soll. Das Fernsehzeitalter, über das sich Castorf lustig macht, liefert längst neue, intensivere Zerstreuungen. Als gebrochene Fernsehfigur bleibt Cathomas-Molière zu Lebzeiten stets bemitleidenswert.

Dabei hatte er es noch relativ gut. Bulgakow selber und der Regisseur Meyerhold mussten 1936 bei der stalinistischen Sowjetführung um Gnade oder Ausweisung flehen. Marek Harloff und Jeanne Balibar interpretieren ergreifend diese brieflich erhaltenen Beispiele dafür, dass Kunst nur in Einverständnis mit Macht existieren kann.

Schauspiel Köln (Depot 1), 5.3., 18 Uhr