Nicht verhuscht: Anamaria Vartolomei

Das Ereignis

Audrey Diwan erzählt ohne Voyeurismus und ­Pauschalisierungen von einer Abtreibung

Wie oft hat man das schon im Kino gesehen: Eine junge Frau lässt sich wegen Unterleibsschmerzen bei ihrem Hausarzt untersuchen – so beginnen Abtreibungsdramen. Doch hier ist es etwas anders. Der Arzt fragt: »Sie haben noch nie mit jemandem geschlafen?« Sie: »Noch nie.« — »Wirklich nicht?« — »Nein.« — »Sie sind schwanger.« Anne (Anamaria Vartolomei) lügt nicht aus Scham, sondern weil es nicht wahr sein darf. Und der Arzt diagnostiziert die biologische Wahrheit nicht triumphierend, sondern bedauernd. Weil er weiß, was es für die Literaturstudentin bedeutet, dass in diesem Augenblick ihr Glaube an die Macht der Sprache, Wirklichkeiten zu schaffen, zerstört wird. Daran erkennt man gelungene Filme über patriarchale Strukturen: dass darin vorkommende Männer durchaus empathiefähig sein können. Weil nicht »die Männer« das Problem sind, sondernGesetze und Normen.

Schwangerschaft ist im Frankreich des Jahres 1963, in dem Abtreibungen streng bestraft werden, »die Krankheit, die nur Frauen trifft und sie in Hausfrauen verwandelt«, wie Anne sagt. Die Folgen dieser »Krankheit« sieht sie jedes Mal, wenn sie am Wochenende zu ihren Eltern fährt. Ihre verhärmte Mutter (Sandrine Bonnaire) spricht nicht viel, aber man erfährt dennoch, was ihr Leben hätte werden können — wenn es nicht hauptsächlich aus auslaugender, schlecht bezahlter Arbeit bestehen würde, neben der sie auch noch ihr Kind großgezogen hat.

Der Film, 2021 in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet, rückt zwar eine illegale Abtreibung ins Zentrum, erzählt aber immer auch davon, was im Mittelpunkt hätte stehen können: den akademischen Weg einer begabten jungen Frau einfacher Herkunft. Dass »Das Ereignis« dabei die Spannung eines Psychothrillers entfaltet, ohne mit plakativen Dramatisierungen zu überwältigen, liegt am zurückgenommenen und dennoch unverhuschten Spiel Anamaria Vartolomeis und an Audrey Diwans Entscheidung für das konzentrierte Bildformat 1,37:1. Laurent Tangys Kamera schmiegt sich dicht an Annes Schulter, folgt ihrem Rhythmus und ihrem Blick. Dadurch wird das Gezeigte nie ­voyeuristisch, selbst in drastischen Szenen.

(L’événement) F 2021, R: Audrey Diwan, D: Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet Klein, Luàna Bajrami, 100 Min.