»Lyriks«: Tropfen von Kondenswasser im Meer an geschwätziger Banalität, Foto: Franziska Götzen

Woanders sein wollen

Das Kölner Ensemble Subbotnik geht mit »Lyriks« auf eine Reise durch poetische Welten

»Das Segel« ist das berühmteste Gedicht des Russen Michael Lermontow. Es handelt von einem Segel, das schönes Wetter nicht mag, sondern lieber den Sturm sucht. Klingt düster und in Kriegszeiten prophetisch.

Oleg Zhukow und Kornelius Heidebrecht vom Subbotnik-Ensemble, geboren an unterschiedlichen Orten in der Sowjetunion, haben es beide internalisiert: Zhukow hat es in seiner ukrainischen Geburtsstadt Odessa am Schwarzen Meer stets mit abenteuerlichem Aufbruch und Sehnsucht verbunden, Heidebrecht in Minsk mit dunklen Wäldern und Bedrohlichkeit. Schön, wie sie es teils auf Russisch, teils auf Deutsch auf der Bühne des Freien Werkstatt Theaters rezitieren, und wie der Musiker und Komponist Heidebrecht es immer mehr zum Konzert anschwellen lässt, zum wunderschönen, wehmütigen und ganz und gar kriegsfernen Lied.

Gedichte, das macht der Abend »Lyriks« unmissverständlich klar, sind per se musikalisch, tiefe Tropfen von Kondenswasser im Meer an geschwätziger Banalität. Wie sie das Gedicht »In den Autos« von Wolf Wondratschek sprechen, das die politischen RAF-70er-Jahre in sich gespeichert trägt und heute so meisterhaft die Lust auf Veränderung einfängt. Heidebrecht inszeniert mit einer Loop-Maschine immer wieder Geräuschkulissen dazu.

Zwölf Gedichte werden an diesem soghaften Abend mit Stille und Musik, Lärm und plötzlichen Pausen inszeniert, an rollende Schautafeln geschrieben, in kleinen Szenen gespielt und mit lustigen Einfällen konterkariert. Etwa, wenn das düstere Naturgedicht »Manchmal« von Hermann Hesse in einem kauzigen, absurd riesigen Blätterkostüm vorgetragen wird. Oder wenn der rebellische Song aus Corona-Zeiten »Du musst gar nichts« von der Band »Die Sterne« einfach auch zum Gedicht erklärt wird. Immer wieder geht es um die Sehnsucht, woanders zu sein, überhaupt: anders zu sein. Schnell wird der melancholische Schmerz der Poesie von Subbotnik zu einer heiteren Utopie umgedeutet, einem Möglichkeitsraum von Kunst.

Am Schluss darf sogar das Publikum Gedankenfetzen äußern, die das Ensemble zu  Instant-Gedichtminiaturen macht. Ein verwunschener, irgendwie aus der Zeit gefallener Abend, der ganz leicht die Tiefe feiert. Sogar die anwesenden Schulkinder wirken beeindruckt.