Expressionistische Farben: Kyona mit ihrem Bruder  © Grandfilm

»Die Odyssee« von Florence Miailhe

Florence Miailhe erzählt eine Fluchtgeschichte mit Hilfe von animierten Ölbildern

Was Kinder mitansehen müssen, wenn der Krieg Familien auseinanderreißt, darauf hat die Welt bekanntlich noch nie viel Rücksicht genommen. Mit den Bildern weiterleben, wie geht das? Florence Miailhes erster abendfüllender Animationsfilm »Die Odyssee« ­erzählt aus der Perspektive einer jungen Zeichnerin eine solche ­Geschichte. Bis die Regisseurin das Geld für ihr aufwändiges Projekt zusammen hatte und bis jedes Einzelbild von Hand mit Öl auf Glas gemalt war, dauerte es zehn Jahre. Aktuell ist die Geschichte immer noch.

Weder die hügelige Gegend, in der das Mädchen Kyona und seine Familie leben, noch die Zeit, in der »Die Odyssee« spielt, sind eindeutig festgelegt. Nach einem brutalen Überfall auf ihr Dorf schlägt sich Kyona mit ihrem ängstlichen Bruder durch. Wie im Märchen durchleben Brüderchen und Schwesterchen Bedrohliches und Seltsames, begegnen zwielichtigen Gestalten, werden an ­einen schweinsgesichtigen Mann und dessen Frau verkauft und getrennt, landen im Zirkus und bei einer Alten im Wald. Ihr Skizzenbuch hat Kyona stets dabei. Das leuchtend Bunte setzt sich immer wieder gegen die bösen Schatten durch, schon weil es in der Macht der Malenden liegt.

Die Form der Animation und der Rückgriff auf archaische Figuren erlauben eine Distanz zu den nicht ausgesparten, aber nur ­angedeuteten Grausamkeiten. Traumlogische Übergänge und knallige Farben aus der Palette des Expressionismus verbinden sich mit den einfachen schwarzen Linien der Gesichter. Dem groben, aber treffsicheren Strich entsprechen die einprägsame Klarheit und Rhythmik des Drehbuchs, das die Kinderbuchautorin Marie Desplechin mit Florence Miailhe verfasste: »So sind wir weggegangen: Mein Bruder hat getrödelt, meine Mutter geweint, mein Vater hat geschimpft, und ich war aufgeregt.«

Als Quellen nutzte die Regisseurin Erinnerungen ihrer Großmutter, die 1905 aus Odessa fliehen musste, und Skizzenbücher ihrer malenden Mutter aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die tröstlich weiche, dennoch nichts beschönigende Stimme Hanna Schygullas als Erzählerin und die vom Filmorchester Babelsberg eingespielte, mit unaufdringlicher Leitmotivik arbeitende Komposition Philipp E. Kümpels bringen Metaphern vom Verlust zum Klingen, die auch Kinder verstehen: »Mein Herz war zu einem Sieb geworden.« Eine stimmige Verschmelzung von Coming-of-Age, Märchen und Fluchtgeschichte.

(L’traversée) F/CS/D 2020, R: Florence Miailhe, 84 Min.