Reich und schön: Charlbi Dean Kriek, Harris Dickinson

Krieg den Jachten!

Cannes 2022 steht natürlich ganz im Zeichen des Ukraine-Kriegs

Von der Croisette aus ist der Blick auf das offene Meer fast frei. Nur wenige Jachten liegen in der Bucht vor Cannes. Vor allem fehlen jene fast kreuzfahrschiffgroßen Privatboote, die in früheren Jahren in mehreren Lagen hintereinander während des Festivals die Aussicht versperrten. Liegt das daran, dass in diesem Jahr die russischen Oligarchen fehlen, die an der Côte d’Azur bislang immer so gerne geprotzt haben? Und ist vielleicht der tagelange Zusammenbruch des Ticketing-Systems des Festivals den Angriffen russischer Hacker zu verdanken? Schließlich sind offizielle Delegationen des Landes dieses Jahr nicht erwünscht, und dann eröffnete der Reigen um die Goldene Palme auch noch mit einem Film des dissidenten russischen Theater- und Filmregisseurs Kirill Serebrennikov, in dem offen die Homosexualität von Russlands Komponistenikone Pjotr Iljitsch Tschaikowski behandelt wird.

Während letztes Jahr die Pandemie das vorherrschende Thema auf dem Festival war (und dieses Jahr eigentlich keine Rolle mehr spielt), ist es dieses Jahr natürlich der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, der den Blick auf das Festival prägt. Überraschungsgast bei der Eröffnungsfeier war der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi, der live zugeschaltet wurde und seiner Sache mit einer filmhistorisch untermalten Rede erneut einen guten Dienst erwies. Es fiel Jurypräsident Vincent Lindon zu, in seiner Rede die offensichtlichste Frage zu beantworten, die sich in so einem Moment für ein Festival stellt: Ist es nicht obszön, Filme zu gucken, zu Feiern und Austern zu schlürfen, wenn ein paar Flugstunden entfernt, die Zivilbevölkerung eines freien Landes für die imperialen Fantasien eines Diktators abgeschlachtet wird?

Es ist natürlich eine Frage, die sich jedes Jahr in der 75-jährigen Geschichte des Festivals hätte stellen lassen können, die sich 2022 allerdings ohne Zweifel mit besonderer Dringlichkeit hier in Europa stellt. Lindon verwies als Antwort auf die Zeitlosigkeit guter Kunst, die alle Barbareien absoluter Macht überdauert: Wer weiß heute noch viel von den Taten von Kaiser Joseph II, aber jeder kennt Mozart; wer wüsste von den Edikten Papst Julius II, aber jeder kennt Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle. Ansonsten könne Film lediglich, so die bemerkenswerte Formulierung des französischen Schauspielers, auf die »Waffe der Massenemotionalisierung« setzen, um Gewissen aufzurütteln und Indifferenz zu bekämpfen.

Wie einen Emotionen allerdings auch in die Irre führen können, zeigte dann gleich Serebennikows Film »Tschaikowskis Wife«, der vielleicht sein unpolitischster ist. Im Zentrum steht weder Tschaikowskis Homosexualität noch die rechtlose Stellung von dessen Frau im Russland des 19. Jahrhunderts, wie man zu Beginn noch denken könnte. Vielmehr geht es darum, wie eine unerfüllte Liebe zu einer Art rational grundiertem Wahn wird. Trotz der Aussichtslosigkeit ihres Sehnens hält Tschaikowaskis Ehefrau an ihrer Liebe fest. Sie ist ihr Lebensinhalt, ihn aufzugeben verspräche – und hier kommt dann doch eine politische Dimension ins Spiel – eben keine Freiheit für eine Frau in solch einem patriarchalen System.

Serebrennikow inszeniert das wie immer mit einer Virtuosität, die im gegenwärtigen Kino kaum ihresgleichen findet, dennoch wirkt der Film gerade in der aktuellen Situation ein wenig aus der Zeit gefallen.

Wie überhaupt der Beginn des Festivals geprägt war von einer Rückwärtsgewandheit, die hier an der Croisette schon seit einigen Jahren bei vielen Filmen zu beobachten ist. Wobei diese Retromanie natürlich auch etwas über unsere Gegenwart aussagt. Pietro Marcellos »L‘envol«, der die unabhängige Sektion Quinzaine des réalisateurs eröffnete, erzählt von einem Soldaten, der aus dem Ersten Weltkrieg heimkommt und alleine eine Tochter großziehen muss. Der äußerlich äußerst grobschlächtige Mann erweist sich nicht nur als liebevoller Vater, sondern auch als talentierter Handwerker und Musiker. Marcelos analog gedrehter Film feiert die Arbeit mit Holz, das Können der einfachen Leute, die Schönheit der Natur – und drückt damit Sehnsüchte unserer digitalisierten Konsumgesellschaften aus, die durch die zunehmende Virtualisierung unseres Alltags durch die Pandemie sicher noch einmal verstärkt wurden.

Am ersten Festivalwochenende bot dann der heiß erwartete neue Film von Ruben Östlund endlich mehr Gegenwartsbezug. Vor fünf Jahren hat der Schwede für seine Kunstwelt-Satire »The Square« die Goldene Palme verliehen bekommen. Sein neuer Film »Triangle of Sadness« wirkt zunächst wie eine Art Fortsetzung seines großen Erfolges. Im ersten Teil des in drei Teile gegliederten Zweieinhalbstünders steht ein Model-Paar im Mittelpunkt. Carl wird zunächst bei einem Casting gezeigt (merke: bei einem Billigmode-Label sollen die Models lächeln, bei teurer Mode müssen sie grimmig gucken), dann bei einem Essen mit seiner Model-Freundin Yaya. Als Frau verdient sie in dem Business mehr, aber sie ist trotzdem genervt, als er sie darauf aufmerksam macht, dass er immer die Rechnungen zahlt. Aus einer Kleinigkeit wird ein handfester Beziehungsstreit. Wie schon in »The Square« geht es um ultra-privilegierte Menschen, die sich selber für aufgeklärt und »korrekt« halten, im Zweifelsfall dann aber natürlich doch ihre eigenen Interessen vorranstellen.

Im ersten Teil wirkt es, als mache es sich Östlund ein wenig zu einfach, indem er seinen Film in einer Welt spielen lässt, deren Selbstwidersprüche und Verlogenheiten noch leichter satirisch aufzuspießen sind als die der Welt der Gegenwartskunst. Im zweiten Teil mit dem Titel »Die Jacht«, der ausschließlich auf einer Luxusjacht spielt (die ein russischer Oligarch kaufen möchte), nimmt »Triangle of Sadness« dann allerdings eine überraschende Wende. Statt komplexer zu werden, zu verfeinern, holt Östlund den ganz groben Pinsel raus, und aus der Satire wird eine Farce mit viel Körperflüssigkeitenhumor – und Marx-Zitaten. Allzu viel Neues erfährt man am Ende nicht über die moralische Verlottertheit der Reichen und Schönen. Aber Spaß macht die kalte, anarchische Wut schon, mit der Östlund hier zur Sache geht. Ob dieser Film auch noch in hunderten Jahren zum großen Kulturerbe der Menschheit gezählt werden wird, ist eher zweifelhaft. Aber vielleicht taugt er ja als Waffe der Massenemotionalisierung. Friede den Nussschalen! Krieg den (Oligarchen-)Jachten!